Freitag, 1. August 2014

Schreibübung Nummer 1: Kritische Stimme

Aufgabe: Geben Sie Ihrer kritischen Stimme Gestalt. Machen Sie aus dem Zensor eine Figur. Welches Geschlecht hat sie? Wie sieht sie aus? Wie riecht sie? Welche Schriftsteller mag sie, welche nicht?
Hugo ist der kritischste aller kritischsten Kritiker, die es weltweit gibt. Er riecht nach Autorenschweiß, der eine Mischung aus Meeressalz und Veilchenduft ist. Er hat weiße, wellige, schulterlange Haare, mit denen er selbstverliebt oft spielt. Er ist so groß wie eine Kaffeetasse, zum Glück, weil er sonst noch mehr nerven würde.
Hugo mag Michael Ende, Sommerset Maugham. Hugo hat eine große Abneigung gegen Krimis, obwohl er früher viel davon gelesen hat. Anscheinend ist er lesemüde, was die Krimis angeht.
In seiner Höhle, Hugo wohnt in einer 1-Kobold-Höhle aus Lehm, hat er ein rotes Kästchen, in dem sich rote Fäden befinden. Er hat sie alle gesammelt, um mich zu ärgern, sämtliche rote Fäden, die mir abhanden gekommen sind, findet man in Hugos Kästchen. So einer ist er. Man muss ganz schön aufpassen, wenn er sich wieder auf die Lauer legt. Er hat eine Vorliebe für bordeauxrote Fäden.

Mittwoch, 3. Juli 2013

Bei minus 17 Grad

In zahlreichen Zeitschriften liest man heutzutage von überforderten Müttern. Egal, ob man in Zeitschriften im Wartezimmer beim Kieferorthopäden blättert oder bei der Zahnärztin oder auf die soeben bestellte Pizza wartet. Die Zeitschriften sind voll davon, aber nicht nur Mütter können überfordert sein.
Es stimmt, ich sitze viel rum, vielleicht ein bisschen zu viel. Wovon ich träume? Von einem Kuss, von einem leidenschaftlichen Kuss mit viel Honigsüße. Das ist lächerlich? Das finde ich überhaupt nicht. Ich bin froh, dass ich noch Träume habe. Denn, was ich durchmache, geht auf keine Kuhhaut. Ja, ich stehe auf tierische Ausdrücke, aber dazu später.
Heute ist ein Dienstag. Dienstage sind prinzipiell meine Glückstage, das habe ich mir so ausgedacht. Ja, ich bin erfinderisch. Meine Fantasie ist lebhaft. Zum Glück, sagt meine Oma. Naja, die muss es wissen. Ich bin bei meiner Oma aufgewachsen. Oh, Mann, ich schweife ab. Die Story erzähle ich ein anderes Mal.
Also die Geschichte, die ich heute erzähle, beginnt gerade eben - an einem Dienstag, genauer gesagt an einem Dienstagvormittag. Ich sitze im Hyde Park auf einer Bank und beobachte neidisch die Pärchen, die an mir vorüberziehen. Es ist Januar und ganz schön kalt. Zum Glück habe ich meinen dicken Wollpulli an, den hat mir meine Oma passsend gestrickt. Es ist so kalt, dass mein Atem weiße Wolken in der Luft hinterlässt. Warum ich hier im Hyde Park sitze, auf einer kalten Parkbank? Also, das hat den Grund, dass ich auf jemanden warte, den ich knutschen kann. Das ist aber wahr. Was würden Sie denn machen, wenn Sie der Froschkönig wären? Zuhause fernsehen? Sehen Sie, im Park rumsitzen und warten, bis jemand kommt, der sie knutschen will. Ich träume schon so lange davon. Übrigens, Oma hat sich mit ihrem neuesten Strick-Kunstwerk sehr viel Mühe gemacht. Es wird langsam Zeit, dass ich unter Dach und Fach komme, hat sie gesagt. Die Bombe tickt sozusagen. Ein Froschkönig, der in die Jahre gekommen ist, muss schauen, dass sich endlich jemand überwinden kann, ihn zu knutschen. Das ist nicht einfach, wenn man 50 ist und einen schon die ersten Zipperlein plagen. Ich bin nun Froschkönig in der siebten Generation. Unsere adlige Linie hat Tradition in England, so wie die Royals in London. Also, bevor William sich die Kate geschnappt hatte, habe ich es bei ihr probiert. Aber William ist einfach, sagen wir mal, schneller gewesen. Außerdem hatte er den Vorteil, schon ein Mensch zu sein. Und ich will ja Mensch werden.
Mit einem geübten Hüpfer schwinge ich mich auf die Lehne der Parkbank, um Überblick zu bekommen. Singlefrauen ziehen an mir vorbei. Eine ist brünett, die andere blond. Ich schürze die Lippen, aber nichts passiert. Sie übersehen mich. Überblick zu haben ist wichtig, sagt meine Oma, vor allem, wenn man so klein ist wie ich. Ich bin nur zehn Zentimeter hoch. Okay, wenn ich mich strecke sind es 35 Zentimeter. Aber zehn Zentimeter Sitzhöhe ist nicht viel, um aufzufallen. Wenn ich doch wenigstens reden könnte. Ich kann nur quaken. Sobald eine Singlefrau auftaucht, quake ich. Eine verdreht die Augen, die andere lächelt und eine dritte lacht mich aus. Es ist bitter, ein Froschkönig zu sein.
Doch halt, einem Wesen bin ich aufgefallen. Ein Eichhörnchen. Ausgerechnet ein Eichhörnchen stürmt auf mich zu. He, stopp, ich will doch nicht zum Eichhörnchen werden. Also, hüpfe ich schnellstens von der Lehne runter und fliehe in weiten Sprüngen, doch das Eichhörnchen ist schnell. Schließlich holt es mich ein. Es weiß sofort, was los ist. Es legt keck seinen Kopf in den Nacken. „Na, biste immer noch ein Frosch?“ Na, toll, voll in die Wunde rein. Ich quake schüchtern ein „Ja“. Es kichert. „Ich hätte da eine Idee.“ Es kommt immer näher und spitzt die Lippen. Ich hüpfe spontan drei Hüpfer nach hinten, bis ich die Gitterstäbe von einem Zaun spüre. Mein Herz pocht mir bis zu meinem Hals. Das Eichhörnchen pirscht sich an mich ran. Seine scharfen Nagezähne blitzen. Ich bin starr vor Schreck. Was würde Oma sagen, wenn ich als Eichhörnchen nach Hause kommen würde? Das Eichhörnchen lächelt. „Ich bin auch ein Mädchen, kleiner Frosch.“ Mir klebt meine Zunge am Gaumen und ich zittere am ganzen Froschleib.
Und dann sehe ich die Borsten von einem Besen. Der Parkwächter hat die Szene beobachtet. Ein Stein fällt mir vom Herzen. Der Parkwächter fegt das Eichhörnchen einfach weg. Und dann streckt er seine Hand nach mir aus, so, dass ich darauf hüpfen kann. Er lacht, als er meinen schicken Wollpulli sieht. Sieht man halt nicht alle Tage. Vor allem dieses freche Muster von meiner Oma. „Kiss me“ hatte sie mir eingestrickt. Das ist doch lieb von ihr, oder?
Oh, nein, was macht der Parkwächter? So schnell kann ich gar nicht schauen. Er spitzt ultraschnell die Lippen und gibt mir den fettesten Knutscher aller Zeiten und zwar ein leidenschaftlicher Kuss mit Honigsüße. Oh, nein. Ich wollte doch eine Menschin zum Knutschen.
Es macht „PUFF“ und „PENG“ und dann stehe ich vor dem Parkwächter. He, so schlecht sieht er gar nicht aus. So ein bisschen wie George Michael. Naja, was soll's. Drei-Tage-Bar, sanfte rehbraune Augen. Außerdem hat er mich vor dem Eichhörnchen gerettet.
Zum Glück hat mein Pulli bei der Vergrößerung mitgemacht. Aber ich habe nichts außer dem Pulli an und das mitten im Januar im Hyde Park.
Wie soll das nur enden? Ich bin ein soeben gewordener Mensch oder ein überforderter Froschkönig bei minus 16 Grad. Der Parkwächter ist schon schnuckelig, na denn.

Sonntag, 23. Dezember 2012

Das nächste Universum, bitte schön!

Rudolf Julius Emanuel Clausius hatte Recht. Unordnung nimmt ständig zu. Wir leben in einem Universum der stetigen Expansion, was unweigerlich zu mehr Chaos führt. Ein scheuer Blick in eins der Kinderzimmer reicht. Übrigens, selbst der flüchtige Blick ins Wohnzimmer. Ehrlich gesagt, auch ein zaghafter Blick in die Küche. Wer ist eigentlich dieser Rudolf Julius Emanuel Clausius? Hatte er nie gelernt, aufzuräumen, wenn seine Mama es ihm gesagt hat? Wahrscheinlich schon. Denn er war ein deutscher Physiker, der im 19. Jahrhundert lebte und sein Steckenpferd war die Thermodynamik oder wie unser Physikprof oft im Angesicht der grausam zu berechnenden Gleichungen sagte, es hieße nicht Thermodynamik, sondern für uns eher Thermodramatik.
Der Ordnung halber wieder zurück zur Ordnung. Also, wer ordentlich ist, widerspricht in seinem Verhalten ganz klar dem zweiten Satz der Thermodynamik. Ich bin begeistert. Zum ersten Mal kann ich mich professionell rechtfertigen, wenn ich nicht aufgeräumt habe. Gut, dass ich mal Chemie studiert habe. Ist ja doch für was gut gewesen.
Okay, okay, durchschaut. Ich gebe es zu. Ich räume nicht gerne auf, und schon mal gar nicht das unordentliche Zeug von anderen. Aber wer in diesem Universum räumt schon gerne auf?
Und es erzeugt mir großes Unwohlsein, weil bei uns immer mehr Sachen auf immer enger werdenden Raum gelagert werden. Kindergeburtstage, Weihnachten, Ostern, Halloween und neuerdings der Kindertag. Alles wird mit Geschenken für die Kleinen gefeiert. Keiner denkt an die armen Menschen, die aussortieren und aufräumen müssen. Es wird immer mehr, wenn man nicht aufpasst und zwar rasant schnell. Drei Mal von Frühling bis Sommer fahre ich zum Flohmarkt und biete die ausrangierten und überflüssigen oder redundanten Sachen an. Es ist befreiend, wenn ich die Dinge weggebe. Denn ich weiß, dieses Teil werde ich nie wieder vom Wohnzimmerboden aus einer Limopfütze herausfischen oder ich werde es nie wieder solange putzen müssen, bis man erkennen kann, um was es sich handelt. Auch die viel zu klein gewordene Kinderkleidung. Alles weg, ja, wie die Kamelle in Köln. Helau! Ein Griff in die Kiste des Überflüssigen. Und weg damit.
Dieses Überfüllte erinnert mich irgendwie ans Internet. Es ist eine virtuelle Welt, in der immer mehr Informationen abgespeichert werden und auf ewig archiviert sind. Einmal im Internet einen kleinen Eintrag gemacht und der Superspürhund Google findet den Eintrag garantiert, auch wenn er bereits seit Jahren gelöscht ist. Es ist schon unheimlich, oder?
Erreichen wir irgendwann ein Maximum an Information, synonym Unordnung und dann macht es Puff? Kommt dann das Zeitalter der totalen Exformation? Also das Zeitalter des Weglassens oder stehen wir dann wirklich vor dem befürchteten Nichts? Ich rufe verzweifelt eines Tages: „He, Schatz, ich stehe vor dem Nichts und es befindet sich auf meinem Monitor.“ Schlurf, schlurf, Schatz kommt. Antwort vom Schatz:„Und? Ist doch nichts Neues. Mach mal einen Kaltstart, Baby.“
Ich stelle mir vor, was wäre, wenn sich hinter einer zuckerwatteartigen Wahrscheinlichkeitswolke im Internet eine Putzfrau versteckt und momentan tierisch angenervt, wenn nicht sogar höllisch frustriert ist. Übrigens, sie sieht wie ein französisches Zimmermädchen aus. Ja, das ist die Idee von meinem Mann synonym Schatz, und die Idee kommt gut an. Ich denke, über 50 Prozent der User sind Männer. Also, nun die Details: Das Zimmermädchen heißt Florence. Ihre schwarzen, langen Haare hat sie nach oben gesteckt, keine einzige Franse fällt ihr ins Gesicht. Nervös zupft sie an ihrer schwarzen Schürze, die von weißer Spitze raffiniert umrahmt ist. Während sie ein verführerisches „Ohlala“ haucht, malt sie elegante Kreise in die virtuelle Luft im Internet. Schatz findet Florence toll, aber nun kommt die Ernüchterung. Diese Geste sieht man sie in letzter Zeit nicht mehr so oft machen. Vorbei mit der Gemütlichkeit, kaum noch Pausen, immer mehr Arbeit. Immer mehr Informationen und damit Unordnung in Massen. Sie schwingt nun den ganzen Tag den Staubwedel aus Straußenfedern. Das „Ohlala“ kommt ihr auch nicht mehr über die Lippen. Und egal, was sie aufräumt, es wird noch chaotischer. Es ist zum Verzweifeln, quasi zum Straußenfederausrupfen. Neulich ist ihr sogar eine Strähne ins Gesicht gefallen. Ein Zeichen, dass es ihr eindeutig zuviel wird. Ihr unruhiger Blick verrät Stress. Es gibt immer mehr Netzwerke, immer mehr Einträge. Für Florence gibt es keine Gewerkschaft und sie schreit unhörbar für alle User des Internets: „Wann macht ihr endlich mal Pause?“ Aber die User können keine Pause machen, denn sie weiter netzwerken. Und wenn sie mal ein kleines Päuschen einschieben, dann nur um Kaffee zu holen oder in transformierter Form wieder wegzubringen.
Können wir ahnen, wie gefährlich diese eine frustrierte, aber mit äußerst starkem Deo ausgestattete Putzfrau sein kann? Ich würde sagen, genauso gefährlich wie eine Diplom Chemie-Ingenieurin, zu der man sagt, sie wäre ja nur eine Hausfrau, obwohl sie Elternzeit hat. Explosiv wie Supersprengstoff. Und sie kann sogar den Sprengstoff selber basteln, weil sie Chemie studiert hat. Ich schweife ab, also in anderen Worten: Diese eine Putzfrau hat den Superwedel, mit dem sie alles wegwischen kann, was jemals geschrieben und kommuniziert worden ist. Ich würde sagen: Ärgere niemals Florence. Non, non. Aber diese Putzfrau wird ständig geärgert. Und sie ist, so hat sie es mir erzählt, unbezahlt. Keiner gibt ihr den Lohn, den sie verdient. Was, wenn sie sich ihren Lohn abholen will?
Florence ist somit der erste Archetyp in der Informationswelt des Internets, den ich Ihnen vorstellen möchte. Sie ist von immenser Bedeutung, wenn es um die Zukunft unseres Internet-Universums geht. Und sie ist nicht allein. An ihrer Seite steht der zweite Internet-Archetyp. Paul Weskamp, der nette Postbote, aber nicht der von nebenan, sondern der, der überall E-Mails und Nachrichten aller Art zustellt. Rund um die Uhr. Er hat Ränder unter den Augen, der arme Kerl, genauso blau wie seine Dienstkleidung. Nun der romantische Teil der Story: Die beiden haben sich bei der Arbeit – so wie über 50 Prozent aller Pärchen in der realen Welt – getroffen. Da in der Unordnung mehr Überraschungen liegen, haben sie sich kennengelernt, als Florence die tausendste E-Mail von Peter Müller mit nur einem Wisch zur Seite fegte und dabei aus Versehen den Internet-Postboten Paul leicht touchierte. „Ohlala“, meinte sie, als sie einen ultimativen Knackarsch erblickte statt des erwarteten Mail-Mülls. Der Rest ist schnell erklärt. Gemeinsame Datenbanken und dann innerhalb weniger Wochen die Geburt von facebook. Süß war der kleine Liebling von Anfang an. Sein strahlendes Lächeln animiert uns tagtäglich, neue FreudInnen zu netzwerken. Hier ein Kontakt und noch einer. Ach, und der? Kenne ich nicht, aber sieht nett aus. Okay. Okay. Und nochmal okay. Jetzt habe ich ein Netzwerk von 155 FreundInnen auf der ganzen Welt.
Oh, Schatz bringt mir gerade Kaffee. Ist doch nett von ihm, oder? „Baby, hör mal, ich will jetzt auch mal wieder an den Computer.“, grunzt er. Schatz übertreibt es wirklich mal wieder. Er hat schon 231 FreundInnen. Ich muss doch mithalten. Okay, ich rücke zur Seite. Seite an Seite networken wir.
Facebook ist wirklich niedlich und wird von Tag zu Tag größer. Ein richtiger Wonneproppen, sehr zur Freude von Paul und Florence. Sie sind stolze Internet-Eltern. Und seit einiger Zeit hat Facebook ein Schwesterchen bekommen. Twitter heißt sie. Sie ist rein oberflächlich betrachtet ihrem Bruder schon ähnlich, aber ihre logische Tiefe ist anders. Die Informationen sind gezielter. Man nimmt am Leben anderer teil. Je nach Lebensrhythmus des Zwitschernden erfährt man, wo sich gerade Mausi Müller befindet und ein nächstes Mal, dass sie nun wirklich mit ihrem Ex-Freund zum zwölften Mal Schluss gemacht hat. Wir erfahren es, bevor es ihr On-und-Off-Freund erfährt. Twitter ist wirklich emotionaler. Aber wer hat nun mehr logische Tiefe? Bei facebook kann ich nicht erkennen, welche Kontakte aussortiert worden sind, während die Kontakte gesucht wurden. Bei twitter kann ich auch nicht sehen, welche Infos aussortiert worden sind, als die Info geschrieben wurde und diese Info ist auf 140 Zeichen begrenzt. Ohne Aussortieren läuft da nichts. Twitter müsste mehr logische Tiefe besitzen. Twitter lächelt uns stolz an. Komplimente mag sie.
Paul fragt sich schon lange, welche seiner beiden Zöglinge effektiver ist. Oder ist er, der Ur-Postbote schlechthin, effektiver? Was führt mehr zu Veränderungen im Verhalten des E-Mail-Empfängers? Oder kann man bei Briefen mehr Veränderung als bei E-Mails feststellen? Florence seufzt aus tiefstem Herzen. Paul soll nicht soviel grübeln, sondern lieber daran denken, auch mal den blauen Teppichboden im Arbeitszimmer zu staubsaugen. Florence ist neuerdings für Arbeitsteilung. Gleichberechtigung ist eine gute Sache und außerdem sitzt Florence am längeren Staubhebel, ähem ...wedel. Sie weiß, wie man Männer dazu bringt, auch das zu tun, was Frauen wollen.
Schatz neben mir bewegt seinen Kopf heftig hoch und runter. „Dir würde so ein Zimmermädchendress mit schwarzen Strümpfen auch sehr gut stehen.“ Typisch, Schatz, denkt mal wieder nur ans Vergnügen. Ich seufze. „Ich muss doch diesen Essay für Bayern 2 schreiben.“, erwidere ich und mit einem sanften Zur-Seite-Stoß meines Hinterns erinnere ich ihn an die Realität. „Schatz, hol noch einen Kaffee.“ Schlurf, schlurf. Super, jetzt kann ich für ein paar Minuten in Ruhe weiterschreiben.
Also, Florence, die Internet-Putzfee ist sehr feministisch trotz ihrer erotisch zu vermutenden Arbeitskleidung. Und sie macht sich ernste Sorgen um die User, denn die virtuelle Kommunikation ist erwiesenermaßen schlecht für die Gehirndurchblutung. Wenn man sich wirklich mit jemanden unterhält, rauscht mehr Blut durch die Birne, als wenn wir uns E-Mails schreiben. Es muss dringend darüber nachgedacht werden, mehr Gehirnregionen anzuregen.
Apropos, anregen. Schlurf, schlurf. Schatz ist zurück. „Hab’ den Kaffee. Rutsch mal, Baby.“ Plumps. Schatz grinst. „Mehr Durchblutung ist super.“
Zurück zu den Gehirnregionen. Auch der Internet-Postbote Paul ist wieder unterwegs. Heute hatte er aber statt in der 10 in der 12 die E-Mail abgegeben. Diese kleine Verwechslung hat zu leichter Verwirrung, aber auch zu post-postaler Erheiterung geführt. Ah, sieh mal an, da wurden neue Gehirnregionen mehr durchblutet. Florence lächelt. Humor scheint gut für die User in der virtuellen Welt zu sein, auch wenn sie die durch Verwechslung erzeugte Unordnung staubwedeln muss.
Schatz tätschelt mir an den Hintern. „He, lass das. Ich muss mich konzentrieren.“, sage ich ihm. Schatz grinst zweideutig. „Baby, die echte Welt ist immer noch besser als die virtuelle.“ Ich überlege. Stimmt, die menschlichen Sinne sind mit viel mehr Informationen gespickt. Sie senden mehr als 11 Millionen Bits pro Sekunde aus, davon erlebt das Bewusstsein nur gut 40 Bit pro Sekunde. Und wie sieht es mit dem Internet aus? Ich beäuge den lüstern in sich guffelnden Schatz. „Deine Bandbreite kenne ich.“, sage ich zu ihm. „Hört sich geil an, Baby.“ Ich winke ab. „Könntest Du die gelben Säcke rausbringen?“ Widerwillig erhebt er sich. Schlurf, schlurf. Ich weiß es, dass ich diesen Essay noch heute schaffe. Ich muss mich nur ranhalten.
Okay, zurück zum weniger, ich glaube es jedenfalls, lüsternen Internet-Postboten. Er träumt von automatisch erzeugten E-Mails, dann hätte er mehr Urlaub. Und er könnte sich mehr um seine vernachlässigte Frau und seine Kinder kümmern. Das Familienleben will gepflegt sein, vor allem in Zeiten des Internet. Er möchte mit seiner Florence mal so ganz ohne viel nachzudenken, in den fraktalen Gärten des Internet lustwandeln, zwischen Mandelbrotbäumen, fraktalen Blumenkohlköpfe und Pythagorasbäumen. Gedacht, getan. Irgendwo in diesem Internet-Universum gab es einen Programmierer, der ihm so ein kleines Programm gebastelt hat. Paul lässt sich vollkommen relaxt auf der Wiese von wikipedia nieder. Es scheint ein ruhiger Ort des Wissens zu sein. Facebook und twitter können solange Ballspielen, wie sich Paul und Florence eine Ruhepause gönnen. Aber mit einmal ist ein Geräusch, donnernd und grollend, zu spüren und zu hören. Es ist, als würde der sensible, virtuelle Boden des Internet beben. Florence steht auf. Paul bleibt enspannt auf der Isomatte liegen. Florence holt ihr Fernglas heraus. Sie kann nichts am Horizont entdecken. Das Beben wird stärker. Nun ruckelt das virtuelle Bild bei wikipedia. Was geht hier vor sich? Florence blickt beunruhigt nach unten. Da, direkt unter Paul. Es ist dunkelbraun und so groß wie ein Auto. Und es wird länger. Florence schnuppert. Twitter und facebook kommen vom Ballspielen zurück. Twitter zeigt auf die Schuhsohle des linken Schuhs. Es ist wohl eindeutig. Es riecht nach Hundehäufchen.
Schlurf, schlurf. Er ist schneller, als ich dachte. Schatz blickt mich von der Seite an. „Das willst du wirklich schreiben?“ Ich nicke entschlossen. „Wenn es doch so ist...“ Schatz kaut an einer meiner selbstgebackenen Dinkelwaffeln. „Dinkel soll bekanntlich gut sein, vor allem für...“
Paul steht nun auf. Die Erde schwankt unter ihnen, weil das große dunkelbraune Ding sich langsam und rüttelnd fortbewegt. Paul schluckt. „Ist es das, wofür ich es halte?“ Florence nickt wissend. „Das ist eine Mega-Verstopfung. Anscheinend haben sich zuviele Daten, die nicht durch den Kanal schlüpfen wollten, angestaut.“ Paul kratzt sich am Dreitagebart. „Wir brauchen so einen Roboter, der den Kanal freiräumt.“ Die Seite von wikipedia flimmert. Nun sind auch facebook und twitter beunruhigt. Es muss eine Lösung her und zwar schnell. Paul geht unruhig auf und ab. Florence fuchtelt nervös mit ihrem Staubwedel über die Verstopfung. Es hilft nichts. Zuviel Redundanz, das hilft der Wedel nicht.
Paul hat eine Idee. In das Suchfeld tippt er „Hilfe“. Ein Pop-up-Fenster öffnet sich. Mist! Schon wieder Werbung. Florence wedelt es schnell weg. Die Verstopfung wird stärker. Twitter zupft Florence an ihrer Schürze. „Wir brauchen eine Idee. Etwas Neues.“ Florence legt die Stirn in Falten.
Schatz legt auch die Stirn in Falten. „Findest du das nicht ein bisschen eklig?“ Ich atme tief durch. „Kennst du ein besseres Bild für zuviel Daten im Internet?“ Schatz beisst herzhaft in die Waffel. „Weift du, ich effe gerade.“ Ich starre auf den Monitor. „Beeil dich, ich muss jetzt das Ende schreiben.“ Schatz hebt die Kaffeetasse und spült den letzten Rest Waffel hinunter. Er hebt die rechte Hand für sein Okay.
Florence überlegt immer noch. Facebook flüstert ihr ins Ohr:„Ich weiß sehr viel.“ Florence schüttelt den Kopf. „Nein, das können wir nicht machen. Mir muss was anderes einfallen.“ Sie massiert ihre Schläfen. Plötzlich hebt sie den Finger hoch. „Ich hab’s. Ja, das ist es.“ Paul vibriert so stark, dass seine Umrisse auf dem Monitor nicht mehr erkennbar sind. „Beeil dich, Florence.“ Florence flüstert Paul ihre Idee ins Ohr. Er nickt eifrig, schreibt das Gesagte in eine E-Mail, die er dem gleichen Programmierer schickt, der ihm einst zu Urlaub verholfen hat. Und sie warten. Endlich, die Antwort der E-Mail kommt zurück. Ja, er hat zugesagt.
Twitter und facebook haben einen Adoptivbruder als Attachment bekommen. Er heißt „Garage sale“ und ist fortan der Flohmarkt für second-hand-Daten. Ein reger Handel setzt augenblicklich ein. Die Verstopfung löst sich Schritt für Schritt. Daten verkaufen sich, selbst solche, die redundant sind. Es wird gefeilscht, keiner der user will zuviel zahlen. Eine Super-Idee. Woher hatte Florence nur diese geniale Idee? Paul weiß es. Denn ein dritter Internet-Archetyp sorgt immer wieder für unvorhergesehene Ereignisse in unserem Internet-Universum. Darf ich vorstellen? Er hat eine Perücke mit roten Locken, eine rote Nase, ein rot-weiß-geringeltes T-Shirt, schwarz-rot-karierte Hosen mit schwarzen Hosenträgern und riesige Schuhe. Es ist der Clown. Es gibt immer einen Markt für Neues. Vor allem dann, wenn man vorher das Problem schafft, damit die Lösung parat liegen kann, so rein zufällig. Twitter setzt sich beim Clown auf die Schulter. Sie zwitschert in sein Ohr und wagt einen Blick hinein. Sie kann seine Gedanken lesen. Der Clown selbst hatte die Verstopfung verursacht. Er hatte ganz viele wikipedia-Einträge geschrieben, nur so zum Spaß. Er reibt sich die Hände. „Garage sale“ ist der Verkaufsschlager. Jeder ist froh, seine überflüssigen Daten auf dem virtuellen Flohmarktstand anzubieten. Ah, dieses befreiende Gefühl, die Daten wie Kamelle vom Internet-Umzugswagen zu werfen. Helau, und weg damit. Cool.
Paul hatte sich einen weiteren Plan zurechtgelegt, falls es nicht geklappt hätte. Er hätte ganz einfach in die Trickkiste gegriffen und die Mega-Wurst in das Nachbar-Internet vom Nachbaruniversum gelenkt. Aber was, wenn deren Postbote ein „Zurück zum Absender“ draufgeschrieben hätte und zwar in dem Moment höchster Entropie, dann wenn nämlich alle User gleichzeitig sich im Internet aufhalten, und der andere Postbote mit unschuldigem Hundeblick gesagt hätte, dass er nicht in der 14, sondern in der 12 lebt? Und dann hätte es Puff! gemacht. Aber zum Glück war es ja anders gekommen.
Der Clown lächelt. Falls hier nichts mehr gehen würde, würde er weiterziehen. Einfach ins nächste Internet-Universum.
Florence fragt Paul, ob er wohl denke, dass diese virtuelle sozialen Netzwerke zu mehr Vereinzelung oder zu mehr Gemeinschaft führen würden. Zuerst bekommt sie ein kritisches Augenbrauenanheben als Antwort, dann sagt er:„In Wirklichkeit ist alles nur ein Spiel. Homo ludens. Der Mensch spielt gerne. Und dieses Rumgeklicke ist ein Spiel.“ Florence beginnt zu verstehen. Facebook und twitter spielen immer noch auf der wikipedia-Wiese Ball. Sie hören gar nicht zu, was ihr virtueller Vater sagt. Ist es vielleicht besser so?
Schatz schlürft geräuschvoll an seinem kalten Kaffee. Er wirft mir geheimnisvolle Blicke zu. Ich weiß, ich soll jetzt endlich aufhören mit der Schreiberei. Und ich soll endlich so aussehen wie Florence. Schatz sitzt im beigefarbenen Korbflechtstuhl, er trägt immer noch seine Dienstkleidung, d.h. eine dunkelblaue Cargohose mit postgelb-dunkelblauem Poloshirt. Ein Hörnchen ziert den Rücken des Polo-Shirts. Er überfliegt meinen Essay und kommentiert ihn mit einem süffisantem Lächeln. „Baby, das ist wie beim Sex, da muss ich auch nicht alles verstehen.“
Ich glaube, ich habe es mir nicht eingebildet. Haben Sie es nicht auch gehört? Ich habe gehört, wie Florence laut aufstöhnte. Sie ruft mir deutlich zu:“Das nächste Universum, bitte!“ Dieses ist ihr wohl zu anstrengend.
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