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Mittwoch, 8. März 2023

Der überforderte Froschkönig

In zahlreichen Zeitschriften liest man heutzutage von überforderten Menschen. Egal, ob man in Zeitschriften im Wartezimmer beim Kieferorthopäden blättert oder bei der Zahnärztin oder auf die soeben bestellte Pizza wartet. Die Zeitschriften sind voll davon, aber nicht nur Menschen können überfordert sein. Es stimmt, ich sitze viel herum, vielleicht ein bisschen zu viel. Wovon ich träume? Von einem Kuss, von einem leidenschaftlichen Kuss mit viel Honigsüße. Das ist lächerlich? Das finde ich überhaupt nicht. Ich bin froh, dass ich noch Träume habe. Denn, was ich durchmache, geht auf keine Kuhhaut. Ja, ich stehe auf tierische Ausdrücke, aber dazu später. Heute ist ein Dienstag. Dienstage sind prinzipiell meine Glückstage, das habe ich mir so ausgedacht. Ja, ich bin erfinderisch. Meine Fantasie ist lebhaft. Zum Glück,sagt meine Oma. Naja, die muss es wissen. Ich bin bei meiner Oma aufgewachsen. Oh, Mann, ich schweife ab. Die Story erzähle ich ein anderes Mal. Also die Geschichte, die ich heute erzähle, beginnt gerade eben - an einem Dienstag, genauer gesagt an einem Dienstagvormittag. Ich sitze im Hyde Park auf einer Bank und beobachte neidisch die Pärchen, die an mir vorüberziehen. Es ist Januar und ganz schön kalt. Zum Glück habe ich meinen dicken Wollpulli an, den hat mir meine Oma passsend gestrickt. Es ist so kalt, dass mein Atem weiße Wolken in der Luft hinterlässt. Warum ich hier im Hyde Park sitze, auf einer kalten Parkbank? Also, das hat den Grund, dass ich auf jemanden warte, den ich knutschen kann. Das ist aber wahr. Was würden Sie denn machen, wenn Sie der Froschkönig wären? Zuhause fernsehen? Sehen Sie, im Park rummlaufen und schauen, ob jemand knutschen will. Übrigens, Oma hat sich mit ihrem neuesten Strick-Kunstwerk sehr viel Mühe gemacht. Es wird langsam Zeit, dass ich unter Dach und Fach komme, hat sie gesagt. Die gefürchtete Zeitbombe tickt sozusagen, auch bei einem Froschkönig. Ein Froschkönig, der in die Jahre gekommen ist, muss schauen, dass sich endlich jemand überwinden kann, ihn zu knutschen. Das ist nicht einfach, wenn man 50 ist und einen schon die ersten Zipperlein plagen. Ich bin nun Froschkönig in der siebten Generation. Unsere adlige Linie hat Tradition in England, so wie die Royals in London. Also, bevor William sich die Kate geschnappt hatte, habe ich es bei ihr probiert. Aber William ist einfach, sagen wir mal, schneller gewesen. Außerdem hatte er den Vorteil, schon ein Mensch zu sein. Und ich will ja Mensch werden. Unbedingt. Mit einem außergewöhnlich eleganten Hüpfer mit Salto schwinge ich mich auf die Lehne der Parkbank, um Überblick zu bekommen. Frauen ziehen erstaunt an mir vorbei. Eine ist brünett, die andere blond. Ich schürze die Lippen, aber nichts passiert. Sie sind nur neugierig. Überblick zu haben, ist wichtig, sagt meine Oma, vor allem, wenn man so klein ist wie ich. Ich bin nur zehn Zentimeter hoch. Okay, wenn ich mich strecke, sind es stolze 35 Zentimeter. Aber zehn Zentimeter Sitzhöhe ist wirklich nicht viel, um aufzufallen. Wenn ich doch wenigstens reden könnte. Ich kann nur quaken. Sobald eine Frau auftaucht, quake ich, wohl ein wenig zu erbärmlich, denn eine Frau verdreht die Augen, die andere lächelt und eine dritte lacht mich aus. Es ist ein hartes Schicksal, ein Froschkönig zu sein. Doch halt, einem Wesen bin ich aufgefallen, einem Eichhörnchen. Ausgerechnet ein Eichhörnchen? Es stürmt auf mich zu. He, stopp, stopp, halt. Ich will doch nicht zum Eichhörnchen werden. Also hüpfe ich schnellstens von der Lehne herunter und flüchte in extraweiten Sprüngen, doch das Eichhörnchen ist verdammt schnell. Schließlich holt es mich ein. Es weiß sofort, was los ist. Es legt keck seinen Kopf in den Nacken. „Na, immer noch ein Frosch?“ Na, toll, voll in die Wunde rein. Ich quake schüchtern ein „Ja“. Es kichert. „Ich hätte da eine Idee.“ Es kommt gefährlich näher und spitzt die Lippen. Ich hüpfe spontan drei Hüpfer nach hinten, bis ich die Gitterstäbe von einem Zaun spüre. Mein Herz pocht mir bis zu meinem Hals. Das Eichhörnchen pirscht sich an mich ran. Seine scharfen Nagezähne blitzen. Ich bin starr vor Schreck. Was würde Oma sagen, wenn ich als Eichhörnchen nach Hause kommen würde? Das Eichhörnchen lächelt geheimnisvoll. „Ich bin eine Frau, kleiner Frosch.“ Mir klebt die lange Zunge am Gaumen und ich zittere am ganzen Froschleib. Auf einmal sehe ich die Borsten von einem Besen. Ein Stein fällt mir vom Herzen. Er fegt das Eichhörnchen einfach weg. Mit einem wohlwollenden Lächeln streckt er seine Hand nach mir aus, sodass ich darauf hüpfen kann. Er lacht, als er meinen schicken Wollpulli sieht. Sieht man halt nicht alle Tage. Vor allem dieses freche Muster. „Kiss me“ hat Oma mir kreativ eingestrickt. Das ist doch lieb von ihr, oder? Oh, nein, was macht der Parkwächter? So schnell kann ich gar nicht reagieren. Er spitzt ultraschnell die Lippen und gibt mir den fettesten Knutscher aller Zeiten, und zwar ein leidenschaftlicher Kuss mit Honigsüße. Oh, nein. Ich wollte doch eine Menschenfrau zum Knutschen. Es macht „PUFF“ und „PENG“ und dann stehe ich vor dem Parkwächter. He, so schlecht sieht er gar nicht aus. So ein bisschen wie George Michael. Naja, was soll's. Drei-Tage-Bar, sanfte rehbraune Augen. Außerdem hat er mich vor dem Eichhörnchen gerettet. Zum Glück hat mein Pulli bei der Vergrößerung mitgemacht. Aber ich habe nichts außer dem Pulli an und das mitten im Januar im Hyde Park. Wie soll das nur enden? Ich bin ein soeben gewordener Mensch oder ein überforderter Froschkönig bei minus 16 Grad. Der Parkwächter ist schon schnuckelig, na denn.

Donnerstag, 17. November 2022

Wie ein Feuer in der Wüste

Hildegard hörte das Gemecker der Leiterin vom Wohntrakt drei über den ganzen Flur. „Frau Brinstrike, keiner stapelt seine Papiere im Wandschrank außer Ihnen. Wirklich keiner.“ Hildegard dachte wieder daran, wie schön der Tag sein würde, an dem sie endlich ihren Manfredo wiedersehen würde. Diese Wiederbegegnung würde einzigartig werden, ein Ausbund an Freude. Sie sah sich in einem regenbogenfarbenen Kleid und durchsichtigen Flügeln. Ihre Haut war schimmernd hell. In ihren katzengrünen Augen spiegelte sich das Bild von Manfredo in einem regenbogenfarbenen Anzug mit Krawatte. An seinem Rücken waren goldene Flügel, weil er ein besonders guter Mensch war. Hildegard stoppte vor ihrer Tür zum Zimmer 310. Die Leiterin, gekleidet in dunkelblauer Hose und pinkem Pulli, wippte aufgeregt mit dem rechten Fuß. „Frau Brinstrike, wie oft soll ich Ihnen das noch sagen? Keine Papiere im Wandschrank.“ Sie deutete zur Tür. „Es ist das reinste Chaos bei Ihnen.“ Hildegard rollte innerlich die Augen. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte um. „Ja, Frau Potthast. Ich kümmere mich darum.“ Sie huschte durch den Türspalt und zog extra laut die Tür hinter sich zu, so dass Frau Potthast zusammenzuckte. „Frau Brinstrike!“ schallte es im Flur. Aber zum Glück war die Tür zu und das Negative blieb draußen. Hildegard schlurfte in ihren grauen Filzpantoffeln zum Schrank. In ihrer rechten Hand hielt sie den Brief vom Finanzamt. Es wäre eine Unmöglichkeit, diesen Brief wegzuwerfen. Sie schob die Schranktür zur Seite und legte den aufgefalteten Brief oben auf den obersten Papierstapel, der gefährlich wackelte. Es war der Papierstapel mit dem Behördenkram. Ein Fach tiefer war der Stapel mit dem Familienkram. Er war halb so hoch. Ein Trauerspiel. Im untersten Fach war der Stapel mit den unangenehmen Angelegenheiten. Sie seufzte, aber immerhin war er der niedrigste Stapel von allen. Für ihn musste sie sich hinknien, auch in geistiger Hinsicht war es bei diesem Stapel ein sich Beugen vor dem Schicksal. Ein Klopfen an der Zimmertür ließ sie aufhorchen. „Ja?“, krächzte sie. Sie brauchte dringend einen Schluck Wasser. Schnell gleitete sie zu dem kleinen Tisch, der gegenüber von ihrem Bett stand. Es war mehr einem Krankenhausbett ähnlich war als einem Ort der Ruhe und Gelassenheit. Die Tür öffnete sich langsam, als sie hastig einen Schluck Wasser nahm. Sie hustete. Was für eine Überraschung. „Robin, schön, dass du vorbeischaust.“ Ihr Herz lachte. Robin flitzte zu ihr. Er war fast zwei Meter groß, hatte kurze brünette Haare und in seinem runden Gesicht lachten ihr zwei braune Augen entgegen. Er sah ihrem Manfredo so ähnlich, als er noch jung war. Aber die durchlöcherten Jeans und das T-Shirt mit einem unaussprechlichen Bandnamen waren ganz anders als Manfredos Kleidung. Robin umarmte Hildegard. „Oma, du brauchst Hilfe, meinte Frau Potthast. Was kann ich für dich tun?“ „Ach Robin, die verrückte Potthast will, dass ich meine Briefe wegwerfe. Aber du weißt ja, das geht nicht.“ Robin blickte zu seiner Oma, die ihre Stirn runzelte. Ihre grauen Locken umrahmten das jugendlich wirkende Gesicht. Sie trug einen grünen Rollkragenpulli und eine elegante schwarze Hose mit Bundfalten. Eine echte Perlenkette peppte ihr Outfit auf. Es klopfte erneut an der Zimmertür und Sebastian, der Pfleger, der oft gern einen Spaß machte, streckte seinen Kopf durch den Türspalt. „Frau Brinstrike, alles gut bei Ihnen?“ „Aber klaro, Sebastian. Ich bin fit wie ein Turnschuh.“ Sebastian hielt einen Daumen hoch. „Vergessen Sie nicht ihre Stäpelchen.“ „Wir sind schon dabei. Aber was ich Sie noch fragen wollte, haben Sie schon wieder diese Live-Reportage von diesem Rennen geschaut. Wie hieß es gleich noch mal…?“ „Rallye Dakar, Frau Brinstrike. Rallye Dakar.“ „Wussten Sie eigentlich, dass ich früher Rennen gefahren bin?“ Sebastian schwang die Tür auf. „Was? Sie wollen mir sagen, dass sie stolze Besitzerin einer Rennfahrer-Lizenz sind?“ Robin klopfte seiner Oma auf die Schulter. „Sie sprechen mit der flottesten Oma im Heim. Es ist Tatsache.“ „Ich glaube, mein Hamster jodelt.“ Hildegard grinste. „Dass ich Sie mal zum Staunen bringe, hätte ich nie gedacht.“ Sebastian blickte ungläubig. „Ich gehe jetzt zurück ins Fernsehzimmer und male mir aus, Sie wären dabei.“ Hildegard protestierte. „Ich bin nicht mehr fit genug. Sehen Sie, wie wenig Muskeln ich habe?“ Sebastian konterte. „Das lässt sich ändern, Frau Brinstrike. Nichts ist in Stein gemeißelt.“ „Aber stellen Sie sich doch mal vor, ich im Fitness-Studio. Wäre das nicht ein komisches Bild?“ „Hat nicht ihr Mann immer gesagt, je oller, desto doller?“ Hildegard lachte. „Ja, und er meinte auch, dass ich die weltbeste Rennfahrerin gewesen bin.“ Hildegards Herz begann zu schwingen. Ein Glücksgefühl durchströmte ihren zierlichen Körper. Manfredo war stets des Lobes voll, auch wenn sie nur den dritten Platz auf dem Nürburgring errungen hatte. Seine Worte waren Balsam für ihre Seele. „Wissen Sie was, Sebastian. Melden Sie mich für nächsten Montag beim Fitness-Studio an.“ Innerlich eröffnete Hildegard einen neuen Papierstapel in ihrem Wandschrank, den für Projekte. Alle würden über einen weiteren Stapel schimpfen. Aber ein Stück weit war es ihr egal. Sie würde ihr Ding durchziehen. Also stemmte sie selbstbewusst die Arme in die Hüften und blickte stolz zu Sebastian. „Ich werde ab heute für meinen Manfredo etwas Schwung in mein Leben bringen.“ Robin beobachtete den sicheren Blick seiner Oma. Er wusste, wenn sie ein Ziel hatte, würde sie alle Hebel in Bewegung setzen, um es zu erreichen. Hildegard blinzelte Robin zu. „Robin, du bist ab heute mein Coach. Was hälst du davon?“ „Ich weiß nicht. Sollten wir nicht erst mal diese Stapel durchforsten und sehen, was weggeworfen werden kann?“ Hildegard stöhnte. „Robin, du bist jetzt 25. Du solltest dich im Kontrageben mehr üben.“ Sebastian zeigte auf die Papierstapel. „Ihr Enkel hat Recht. Aber ich habe einen Vorschlag. Sie machen sich an die Arbeit und als Belohnung melde ich Sie beim Fitness-Studio an.“ Hildegard lief energiegeladen zu Sebastian und hielt ihre rechte Hand zum Einschlagen hin. Sebastian schlug ein. „Abgemacht, Frau Brinstrike.“ Diese Nacht schlief Hildegard ruhig in ihrem monströsen Bett. Sie träumte von Manfredo, der ihr gratulierte, dass Sie ins Fitness-Studio gehen wollte. Doch Frau Potthast tauchte mitten in dem Gespräch auf und drohte Hildegard, nicht nur die Papierstapel zu kontrollieren, sondern auch was sie träumen würde. Ihr würde nichts entgehen und das sollte sie mal glauben. Alte Leute brauchen Ruhe und keine Abwechslung. Hildegard wachte erschrocken auf. Der Traum war so echt. Ihr Herz klopfte. Ihr war klar, dass ihr Unterbewusstsein ihr sagen wollte, dass Frau Potthast nichts davon erfahren sollte. Sie schwitzte bei diesem Gedanken. Morgen würde sie mit Sebastian reden. Dieser Gedanke half und sie nickte wieder ein und träumte von der Wüste und ulkigen Wüstentieren. Am nächsten Morgen schaltete Hildegard ihr Smartphone, das ein Weihnachtsgeschenk von Robin war, ein. Sie fand heraus, dass die Rallye Dakar in Saudi-Arabien stattfand, also wirklich in der Wüste, so wie im Traum. Insgesamt 7900 Kilometer müsste sie fahren. Sie bräuchte ein spezielles Auto und einen Beifahrer, der sich nebenbei mit Autos auskennt. 14 Tage dauert die Rallye Dakar. Und es gibt immer wieder Tote bei diesem Rennen. Sie schluckte und auf einmal war ihr ganz schwindelig vor ihrem eigenen Mut. Sie stand entschlossen von ihrem Stuhl auf und suchte im Flur nach Sebastian. Er saß schon wieder vor dem Fernseher und schaute Rallye Dakar. Sie tippte ihm an die Schulter. „Oh, Frau Brinstrike, schon so früh wach?“ „Wir müssen reden.“ „Oh, so ernst. Was gibt’s?“ „Ich brauche ihr Wort. Bitte schalten Sie um auf Schweigefuchs bei Frau Potthast, wenn ich zum Fitness-Studio gehe. Keine Anspielung auf die Rallye Dakar. Nichts, wirklich nichts.“ Sebastian blickte in das ernst wirkende Gesicht von Hildegard. „Okay, aber das mit der Rallye ist doch eh ein Scherz, oder?“ Hildegard verstand seinen Wink. „Ja, da haben Sie vollkommen Recht. Ich will nur fit sein. Deswegen fahren Sie mich am Montag zum Fitness-Studio.“ „Aber klaro, Brinstriken-Mädchen. Wir schaukeln das.“ Pünktlich um neun Uhr am Montag holte Sebastian Hildegard ab. Sie hatte ihre Sportklamotten in einer weißen Baumwoll-Einkaufstasche mit der Aufschrift „Einmal hin, alles drin“ gepackt. Hildegard schnaufte und ächzte, stöhnte und fluchte. Die Hanteln waren schwerer als sie sie in Erinnerung hatte. Die Geräte brachten sie an den Rand ihrer Kräfte. Aber sie hielt durch und Übung für Übung wurde sie stärker und stärker. Sebastian holte Hildegard, die mit rotem, verschwitzten Gesicht vor dem Fitness-Studio auf ihn wartete, erstaunt ab. „Frau Brinstrike, übernehmen Sie sich da nicht?“ „Nur die Harten kommen in den Garten, was?“ Sebastian lachte und brachte sie zurück ins Seniorenheim. Insgeheim bewunderte er sie. Nach drei Monaten federte ihr Gang wieder. Die schlurfenden Schritte wurden von energischen Schritten abgelöst. Ihre straffere Körperhaltung wirkte sogar auf Frau Potthast. Aber es war ein misstrauischer Blick bei Frau Potthast. Hildegard merkte diese Feinheit. Hildegard saß eines Tages beim Kaffeetrinken im Speisesaal. Sie hob die Kaffeetasse mit Leichtigkeit an. Heute würde sie es tun. Sie würde sich bei der Rallye Dakar bewerben. Heute würde sie Robin überzeugen, dass er der Beifahrer wäre. Sie fühlte sich unsicher trotz der neuen körperlichen Fitness. Robin sollte eigentlich schon längst da sein. Wo blieb er nur? In diesem Moment sah sie Robin den Flur vor dem Speisesaal entlangstapfen. Ein sportlicher Kerl. Er hatte sie nun drei Monate nicht gesehen. Würde er den Unterschied merken? Hatte sie eine Chance? Robin nahm sie in den Arm und setzte sich zu ihr an den Tisch. Er zuckte leicht zusammen. „Hi, Oma. Du hast ganz schön kräftig umarmt.“ Er beäugte sie mit schief gelegtem Kopf. Hildegard trug ein T-Shirt. „Und deine Armmuskeln sind unglaublich.“ Er fasste an einen Oberarm. Hildegard grinste stolz. „Hartes Training, mein Junge. Solltest du auch mal probieren.“ Robin blickte erstaunt. „Ich? Nein, ich bin eher der Radfahrertyp.“ Er zeigte Richtung Ausgang. „Oma, du weißt doch, dass ich gerne Mountainbike fahre.“ Hildegard nickte. „Und an Autos schraubst.“ „Oma, das ist mein Job. Wie meinst du das?“ Hildegard zwinkerte. Robin verstand und folgte ihr, als sie abrupt aufstand und Richtung Ausgang lief. Sie liefen schweigend in den Park. Erst als Hildegard auf einer einsam gelegenen Parkbank Platz nahm, redete sie wieder. „Robin, ich habe ein Projekt.“ Robin hielt inne. „Hört sich interessant an.“ „Und du kommst auch drin vor.“ „Was?“ „Pst, nicht so laut. Robin, ich möchte bei der Rallye Dakar mitmachen und ich brauche einen Beifahrer, der sich mit Autos auskennt.“ „Aber Oma.“ „Ich habe bereits meinen Kumpel Heinrich aus alten Zeiten angerufen und er meint, dass er mir ein passendes Auto organisieren und nach Saudi-Arabien bringen kann.“ Robin stand überrascht auf. „Ich verspreche dir, es wird das Abenteuer deines Lebens.“ „Genau, ein Abenteuer, aber ein Gefährliches. Wenn das Papa rauskriegt, dass wir zusammen so ein Ding drehen wollen.“ „Wir informieren ihn, wenn wir zurück sind.“ „Aber dein Seniorenheim. Ich meine, was sagen die denn dazu? Du kannst doch nicht einfach die Rallye Dakar fahren.“ „Robin, ich habe einen gut durchdachten Plan.“ „Und was ist, wenn dir was passiert? Das ist mitten in der Wüste.“ „Ich war gestern bei meinem Hausarzt und er bestätigte, dass ich fit bin.“ „Fit für Unfug?“ „Nein, fit für einen Lebenstraum. Worauf soll ich warten, Robin?“ „Ich habe Verantwortung, wenn ich dich begleite, Oma.“ „Und du hast die einmalige Chance mit mir ein unvergessliches Erlebnis zu haben.“ Hildegard beobachtete Robin haargenau. Er grübelte. Das erkannte sie daran, dass er seine Finger knetete. „Oma, lass mich darüber nachdenken.“ „Du hast eine Woche Zeit.“ Hildegard telefonierte häufig mit Heinrich. In ihrer Magengrube kribbelte die Vorfreude. Robin hatte zugesagt. Und dann war es soweit. Hildegard verließ das Seniorenheim mit ihrem großen grauen Koffer aus Kunstleder. Frau Potthast hatte sie erzählt, dass sie Urlaub machen würde, zusammen mit ihrem Enkel Robin. Sie dachte an die Flugtickets in ihrer schwarzen Handtasche. Es ging nach Dschidda. Gut, dass Manfredo ihr ein Aktiendepot hinterlassen hatte. Robin holte sie am Seniorenheim ab und mit einem Mietwagen fuhren sie zum Flughafen Frankfurt. Sie war aufgeregt, aber positiv. Als das Flugzeug zur Landung ansetzte, drückte ihr Robin die Hand. „Danke, Oma. Ich glaube, das kann man nicht oft genug sagen.“ Hildegard lächelte. Mit einem Taxi fuhren sie zum Lager der ersten von zwölf Stationen der Rallye Dakar. Der Taxifahrer fragte sie, ob sie Touristen seien. Und als Hildegard ihm auf Englisch mitteilte, dass sie und Robin mitfahren würde, war er auf einmal still. Nach einer kurzen Überlegung meinte er, dass Dschidda auch Großmutter bedeuten kann. Er fügte hinzu, dass es ein gefährliches Abenteuer sei. Sie nickte. Robin schwieg. Als sie und Robin im ersten Zeltlager der Rallye Dakar eintrafen, meldeten sie sich bei der Rezeption an. Er stellte sich mit dem Namen Ismi Abdallah ibn Umar ibn Muhammed ibn Abdallah al-Halabi vor. Wegen ihrer erstaunten Gesichter schlug er vor, ihn Ismi zu nennen. Er gab ihnen ein Buch mit Instruktionen. Ihr Auto würde bereitstehen. Sie müssten nach links und wieder rechts gehen, dann würde ein Mister Heinrich Müller sie erwarten. Heinrich jubelte, als er Hildegard sah. Er umarmte sie und Robin. Stolz zeigte er auf den weißen Geländewagen. „Euer Gefährte für die nächsten 14 Tage.“ Hildegard und Robin nahmen Platz. Robin prüfte das Cockpit. „Oma, das wird eine ganz große Sache. Echt.“ Am Abend bauten sie ihre Zelte auf und übernachteten in dunkelgrünen Schlafsäcken auf blauen Isomatten. Hildegard träumte diese Nacht von einem Auto, das in das Ziel der Rallye Dakar flog. Sie kroch am nächsten Morgen um fünf Uhr aus ihrem Zelt und weckte Robin und Heinrich. Sie gähnten beide herzhaft und Hildegard trommelte sich wie Tarzan auf die Brust. „Nichts kann uns aufhalten.“ Ismi drückte ihr das Roadbook in die Hand und erklärte ihr, wie sie es auf der ersten Strecke lesen sollten. Robin nickte, innerlich war er angespannt. Der Start rückte näher. Hildegard fuhr den Geländewagen mit ihrem Namen und Robins Namen sowie der Startnummer auf der Fahrertür an die Startposition. Sie zitterte leicht. Aufregung pur. Sie drückte aufs Gaspedal und Robin gab ihr Anweisungen. Er warnte sie vor Gestein, vor Schlamm und sandigen Untergrund. Wenn sie über Gestein fuhr, setzte der Geländewagen hart wieder auf. Ein Stoß rüttelte sie in ihren Sitzen hin und her. An anderen Stellen wirbelte der Geländewagen Sand auf und vernebelte kurz die Sicht. Das ständige Hüpfen des Autos verursachte bei Hildegard ein flaues Gefühl in der Magengegend. Aber nach fünf Stunden, 33 Minuten und 17 Sekunden erreichten sie al-Wadschh. Sie waren die Küste entlang gefahren und nun sahen sie einen Tisch mit einem roten Schirm überdacht, den Kontrollpunkt. Die erste Strecke war geschafft. Sie erfuhren, dass der Erste knapp drei Stunden gebraucht hatte. Hildegard stieg aus und streckte sich. Sie hatte tierischen Muskelkater. Robin schlug vor, dass sie in den Mediencenter gingen und schaltete den Laptop ein. Er schickte seinem Vater eine E-Mail, dass alles okay sei und der Urlaub in Saudi-Arabien sensationell. Anschließend aßen sie ein Menü mit Hühnchen, Reis und Gemüse und tankten den Geländewagen für die zweite Strecke auf. Am zweiten Tag fuhren sie von al-Wadschh erst die Küste entlang und dann ins Landesinnere. 397 Kilometer waren zu bewältigen. Helikopter flogen über ihnen. Kamelherden kreuzten ihren Weg. Es war eine flache Sandstrecke, an deren Rand einzelne grüne Büschen standen. Sie hatten von Reifenschäden gehört, aber zum Glück hatte Heinrich den Reifendruck optimal eingestellt. Außerdem konnte Hildegard je nach Untergrund den Reifendruck von ihrem Cockpit aus regulieren. Der aufwirbelnde Staub machte Hildegard ein schnelles Fahren fast unmöglich. Nach gut sechs Stunden erreichten sie die Hafenstadt Neom. Der Schnellste war die Strecke in nur dreieinhalb Stunden gefahren. Hildegard und Robin fuhren am dritten Tag eine Schleife von Neom nach Neom. An der sandigen Strecke waren Gebirge, die wie aufgestapelte Steine aussahen. Sie hörten, dass ein Biker-Teilnehmer mit Knochenbrüchen ins Krankenhaus geflogen wurde und dass ein Auto in Flammen aufging. Hildegard war stolz, dass sie bereits zwei Stunden nach dem ersten ins Ziel fuhr. Am Abend kontrollierten Robin und Heinrich das Auto. Sie wechselten die Stoßdämpfer aus. Eine Physiotherapeutin behandelte Hildegard. Es tat ihr ausgesprochen gut. Sie atmete tief durch und freute sich auf den nächsten Tag. Die vierte Strecke ging von Neom nach al-Ula. 672 Kilometer mitten durch Schluchten, über graustaubige Straßen, an deren Rand niedrige Laubbäume und knorrige Zäune standen. Sie brauchten sieben Stunden. Der erste hatte nur vier Stunden gebraucht. Robin sagte Hildegard, dass es vor allem aufs Durchhalten ankomme. Hildegard wollte aber schneller werden. Sie wollte es den anderen zeigen. Die fünfte Strecke führte sie von al-Ula nach Ha’il. Und trotz aller Vorkehrungen hatten sie einen Reifenschaden. Heinrich half ihnen so schnell es ging, aber sie verloren zwei Stunden dadurch. Frustriert fuhren sie nach acht Stunden zum Kontrollpunkt von Ha’il. Hildegard bemerkte die Schönheit der einzigartigen Landschaft. Ein Berg, der wie ein Elefant aussah. Es war einmalig. Eine käsegelbe Sonne stand am rostroten Himmel mit Wolkenschwaden. Später krabbelte sie müde in ihren Schlafsack. Auf der sechsten Strecke ging es von Ha’il nach Riad. Ganze 830 Kilometer waren zu bewältigen. Hildegard fühlte sich schlapp. Sie hatte schlecht geschlafen. Und so rutschte der Geländewagen über eine Sandkuppe und kippte links weg. In letzter Sekunde konnte sie ihn abfangen. Robin atmete schwer. Sie hatten verdammtes Glück gehabt. Im Zeltlager von Riad prüfte Heinrich zusammen mit Robin Öl, lockere Schrauben und die Reifen. Es war alles okay. Und alle drei waren erleichtert, weil einen Tag Pause war. Am übernächsten Tag ging es nach Wadi ad-Dawasir. Ein tragischer Tag, denn einer der Biker stürzte so schwer, dass er starb. Hildegard und Robin erfuhren es erst am Kontrollpunkt von Wadi ad-Dawasir. Robin fragte Hildegard, ob sie um jeden Preis diese Rallye durchziehen würde. Sie grübelte und nach einer langen Pause sagte sie ihm, dass es in diesem Sport immer wieder Unfälle gäbe. Robin wollte wissen, was wäre, wenn es sie treffen würde. Sie wollte darüber nicht reden. Am nächsten Tag fuhr Hildegard die achte Strecke. Robin las mechanisch die Warnhinweise aus dem Roadbook vor. Ansonsten wechselten sie kein Wort. War dies alles richtig? Das ging ihnen durch den Kopf. Die neunte Strecke nach Haradh war anstrengender als gedacht. Es gab scharfe Rechtskurven, die an überraschenden Stellen auftauchten. Hildegard fuhr die Strecke in erstaunlichen vier Stunden, mit nur einer Stunde Abstand zum ersten. Robin bemerkte die Verbesserung und lobte sie. Aber ihr schmeckte der Erfolg nicht so richtig, da sie an den toten Biker denken musste. Als sie die zehnte Strecke nach Shubaytah fuhren, überschlug sich direkt vor ihnen ein Auto, das wieder auf den Rädern landete. Ein Sandsturm erschwerte die Fahrt, aber Hildegard war nur eine halbe Stunde hinter dem ersten. Im Zeltlager, das sich in der Nähe von einem Flughafen befand, marschierten sie in eine große weiße Blechhalle, in der ihnen das Abendessen serviert wurde. Diese Nacht übernachteten sie in einem der 3-Etagen-Betten. Heinrich erzählte Hildegard, dass Saudi-Arabien ein Land ohne Flüsse und Seen sei. Hildegard träumte diese Nacht von einem ausgetrockneten Fluss. Sie war wie gerädert, als sie am nächsten Tag ins Auto stieg. Robin fragte sie, ob es ihr gut gehe. Sie meinte, so la-la. Sie dachte an die elfte Strecke zurück nach Haradh. Sie fuhr draufgängerisch. Robin ermahnte sie, doch weniger Gas zu geben. So fuhr sie eine Dünenkuppe nach oben und rasant steil nach unten. Sie musste anhalten. Robin übergab sich. Nach zehn Minuten hatte sich Robin beruhigt. Aber sie konnte nicht anders. Sie gab mehr Gas als sonst. Sie war wie im Rausch. Nur zwanzig Minuten nach dem ersten, also nach gut viereinhalb Stunden waren sie am Kontrollpunkt. Der Kontrolleur lobte Hildegard. Und am Abend wurde sie von einem Reporter interviewt. Sie wäre die interessanteste Fahrerin der Rallye Dakar. Sie fühlte sich geschmeichelt. Robin wirkte nachdenklich. Die letzte Strecke führte sie nach Qiddiya. Es war eine kurze Strecke mit nur 447 Kilometern. Der Wagen vor ihnen hatte anscheinend Probleme. Er bremste immer wieder aus. Und plötzlich blieb er stehen. Zwei ratlose Franzosen stiegen aus und berieten sich. Robin meinte, dass sie helfen sollten. Hildegard hatte ihren Fuß auf dem Gaspedal. Da fiel ihr ein Spruch von ihrem Manfredo ein. In erster Linie ist man Mensch und dann Rennfahrer. Und so kam ihr ein Gedanke, der sie eisern festhielt. Man will als Helfer bewundert werden, eher als als Gewinner. Und so stoppte Hildegard und sie kletterten aus ihrem Geländewagen und halfen. Sie schlossen Freundschaft und endlich erkannte Hildegard, was wichtiger ist als Erster zu sein. Zusammen mit ihren neuen Freunden erreichten sie als Letzte die Ziellinie. Sie feierten bis spät in die Nacht. Hildegard und Robin beobachteten den Sonnenuntergang. Sie hakte sich bei ihm unter. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich habe das nicht für mich gemacht, Robin.“ „Ich weiß.“, sagte Robin und nahm sie sanft in den Arm. Und sie fühlte sich wie ein Feuer in der Wüste.