Donnerstag, 17. November 2022

Das rote Spiegelbild

(in Anlehnung an das Original: „Das Geheimnis des Rothe-Bachs bei Paderborn“ im Buch „Sagen und Legenden des Paderborner Landes“ von Therese Pöhler) Julius beobachtete den hellblauen Himmel, der am Horizont orangegelb eingefärbt war. Er war müde, so müde, dass er kaum noch einen Schritt vor den anderen setzen konnte. Die ganze Nacht war er wach gewesen und hatte darüber nachgedacht. Er liebte Felicitas und wie sie ihre langen, blonden Haare vor Freude schüttelte, wenn er ihr von einer Neuigkeit berichtet hatte. Ein Blick in ihre hellblauen Augen ähnelte dem sehnsuchtsvollen Schauen in den morgendlichen Himmel und dem Warten auf einen Tag, der nur Gutes bringen würde. Niedergeschlagen stapfte er den Weg weiter, der ihn zum Rothebach führte. Er erinnerte sich an eine Geschichte, die ihm seine Mutter erzählt hatte und die hatte es von ihrer Mutter und die wiederum von ihrer. Worum es darin ging, spukte schon seit Tagen in seinem schweren Kopf umher. Es ließ ihn nicht mehr los. Erschöpft in Geist und Körper setzte er sich auf eine Wiese mit grünen Pflanzen, die sich an den Wiesenboden wie eine Geliebte schmiegten, und deren doldenförmigen, fliederfarbenen Blüten ihm sehr gefielen. Er begann, dem plätschernden Geräusch des Rothebaches zu lauschen. Das wiederkehrende, beruhigende Rieseln des Baches kam ihm vor, als ob eine beruhigende Stimme aus alten Zeiten zu ihm sprach und ihm helfen wollte. Julius schloss die Augen und atmete tief ein. Der zugleich erdige und erfrischende Duft von Wasserminze durchströmte ihn. Seine Gedanken schweiften ab und fanden sich in jenem Loch wieder, das ihn hierher in die Stadtheide geführt hatte. Der Vater von Felicitas wollte nicht, dass Julius sie heiratete. Er verhinderte es mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen. Julius‘ bester Kumpel Finn trug ihm sogar zu, dass Felicitas‘ Vater behauptete, dass Julius noch eine Freundin hätte. Deswegen gab es gestern einen Riesenstreit zwischen Julius und Felicitas. Sie glaubte dem Gerücht, dass er ein Verhältnis mit einer Kollegin hätte und sie machte Schluss. Es traf ihn tief, aber der Tag war noch nicht zu Ende, als er erfuhr, dass Felicitas einen neuen Freund hatte. Es war merkwürdigerweise Finn und er verstand überhaupt nichts mehr. Sein Herz war vom Schmerz der Trennung durchzogen. Er öffnete wieder die Augen und sah zu dem Rothebach, der von hohen, breiten, westfälischen Eichen und stillen, in sich gekrümmten Kopfweiden umrahmt war und ihm wie eine Schutzmauer erschienen. Wenn er doch nur eine Lösung für seinen Liebeskummer hätte. Eine schwere Last lag auf seiner Brust und umklammerte ihn so fest, als würde ein Eisenring ihn beengen. Eine Träne rann seine Wange herunter und tropfte auf eine Wasserminzenpflanze. Der erdig-frische Duft stieg ihm in die Nase und er holte nach einigem Zögern sein Tagebuch heraus. Es war in hellbraunem Leder gebunden und zeigte bereits von seinen Fingern speckige Spuren, da er in letzter Zeit öfters das Bedürfnis hatte, seine Gedanken festzuhalten. Julius schlug das Buch auf und stellte mit Erstaunen fest, dass er bereits auf der letzten Seite angekommen war. Sein letzter Eintrag war, dass er sich an das Versprechen erinnern wollte. Inzwischen war die Sonne weiter aufgegangen und erste Sonnenstrahlen streiften sein Gesicht. Schnellentschlossen erhob er sich und das Buch fiel aus seinem Schoß in die Wiese. Er hatte einen Plan und nichts würde ihn aufhalten. In Felicitas‘ Augen sah er eine Mischung aus Überraschung und Abneigung. Sie stand in ihrem Morgenmantel vor ihm. Riesige Mohnblumen, die ihren begehrenswerten Körper bedeckten. „Was willst du hier?“ Julius hielt das Tagebuch in der Hand und sah ihr fest in die Augen. „Dich an das Versprechen erinnern.“ Im Hintergrund hörte er eine männliche Stimme und hatte spontan ein ungutes Gefühl. Felicitas‘ Vater erschien hinter ihr und funkelte Julius erbost an. „Willst Du es noch von mir hören?“ Julius ballte die Fäuste. „Sagen Sie es mir, damit ich es weiß.“ Die hohe Stirn des Vaters bildete viele runzlige Falten, als dieser antwortete. „Finn ist der ideale Mann für meine Prinzessin.“ Julius war bereit in den Kampf zu ziehen und holte eine Erinnerung aus seinem Gedächtnis. „Haben Sie schon von den Heidealten gehört und von der Heilkraft des Rothebachs?“ Der Vater winkte abwertend ab. „Was für ein blödes Zeug faselst du da? Ich sage dir jetzt klar und deutlich, dass du Felicitas in Ruhe lassen sollst. Das ist alles.“ Julius gab nicht auf. „Warum ist Finn ideal?“ Mit den Händen in den Hosentaschen antwortete er Julius. „Also, gut, wenn du es unbedingt wissen willst. Finn hat mehr auf der Joppe und keine Flicken auf der Buchse.“ Julius kochte innerlich. „Wenn ich mehr hätte, dürfte ich Felicitas heiraten?“ Ihr Vater lachte schallend. „So ist es, Pattjackel.“ Julius hatte es mit einem der stursten Westfalen in der Stadt zu tun und es kostete ihm totale Beherrschung nicht ausfallend zu werden, doch er dachte an seine Zukunft und in dieser Vision würde auch Felicitas‘ Vater eine Rolle spielen. Er musste den Ball flach halten, auch wenn es ihm verdammt schwerfiel. Mit einem Grummeln im Magen erwiderte er seinem vielleicht zukünftigen Schwiegervater. „Herr Wiesenkemper, ich habe ihrer Tochter ein Versprechen gegeben, auch wenn ich es gebrochen habe, so werde ich einen Weg finden, es einzulösen.“ In den Augen von Felicitas‘ Vater sah er Belustigung und Verwunderung, als dieser ihm entgegnete. „Finn wird sie glücklich machen. Das ist mein letztes Wort.“ Julius sah zu Felicitas hinüber, die die ganze Zeit schweigend dabeistand. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich will eigentlich nur meine Ruhe, wenn ihr mich fragt.“ Julius trat einen raschen Schritt auf Felicitas zu und griff nach ihrer Hand. „Ich bin ein Kind aus der Stadtheide und denen fällt immer etwas ein.“ Leicht genervt blickte sie Julius an. „Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst, aber bitte schön.“ Felicitas‘ Vater sah streng auf die Hand von Julius, die immer noch ihre Hand hielt. Julius ließ los und sah ihrem Vater direkt in die Augen. „Sie werden sehen, Herr Wiesenkemper. Ich bin nicht so ein Schlot wie Sie denken.“ Julius machte auf dem Absatz kehrt und blickte nicht noch ein Mal zurück. In seinen Sinnen schwebte eine Vorstellung, wie seine Zukunft aussehen könnte. Wenn er genauer darüber nachdachte, war es mehr als eine Vorstellung. Er glaubte daran, dass es sich so erfüllen würde. In seinem Blick war wilde Entschlossenheit für seine Liebe zu Felicitas zu kämpfen, egal wie hoch der Preis war. Julius wusste, wohin er gehen musste, als er vor diesem kleinen Holzhaus, das direkt an dem Rothebach stand, anklopfte. Eine alte Frau mit weißen Haaren, die zu einem Dutt hochgesteckt waren, und einem schlichten Kleid mit kleinem Blümchenmuster öffnete die verwitterte, wohl ehemals dunkelbraune Holztür. „Sie wünschen?“ Julius war frohen Mutes, da er die Legende kannte und sein Herz die Antwort ihm nicht nur vorschlug, sondern er fühlte sie. „Meine Mutter meinte, dass man Sie fragen könnte, wenn einem eine tiefe Traurigkeit erfasst.“ Die alte Dame kicherte heiser. „Eine weise Frau, Ihre Frau Mutter. Kommen Sie rein.“ Die alte Dame schwang die Tür weiter auf und gab ihm ein Zeichen, hereinzutreten. Mit vorsichtigen Schritten ging Julius in das niedrige Häuschen. Er hatte das Gefühl, jeden Moment an der Zimmerdecke anzustoßen und so ging er leicht gebückt. Die alte Dame lief in ein schlicht eingerichtetes Wohnzimmer. Ein Sofa in einem Grauton, der sowohl Alter also auch Edles darstellte, stand nahe am Fenster. Es war mit pinkfarbenen Häckeldeckchen auf den Armlehnen dekoriert. Die Füße des Sofas waren von herabhängenden Fransen in einem helleren Grauton verdeckt. Julius entdeckte bei genauerem Hinsehen einen Katzenkopf, der die Fransen leicht zum Bewegen brachte. Auf einem dunkelbraunen, runden Holztisch lag ein weißes Häckeldeckchen und stand eine Duftlampe, die einen beruhigenden Wohlgeruch im Raum verbreitete. Der Minzgeruch stieg ihm angenehm in die Nase und verursachte ein Gefühl, daheim zu sein. Angekommen zu sein. An einem Ort zu sein, an dem ihm geholfen werden würde. Die alte Dame nahm auf einem der beiden dunkelbraunen und edlen Holzstühle Platz und wies mit ihrer Hand auf den freien Stuhl. „Nehmen Sie Platz, junger Mann. Wie heißen Sie?“ Julius plumpste auf den Stuhl, der ein knarzendes Geräusch von sich gab. „Julius Appelboom.“ Ihre grauen Augenbrauen hoben sich leicht. „Und was führt Sie zu mir?“ Julius’ Herz war erfüllt mit einer Schwere wie Blei und der erste Satz, der über seine Lippen kam, stolperte. Dann folgte der zweite, der dritte und immer mehr, bis die alte Dame alles wusste, was sie zu wissen brauchte. Ihr Lächeln war gütig. „Sie wissen, dass ich eine Heidealte bin, stimmt das?“ Julius nickte stumm. Sie lächelte milde. „Man sagt mir nach, dass ich eine Heilhand habe, um Gebrochenes zu festigen und dass ich einen Heilmund habe, um einen guten Rat zu geben.“ Julius fühlte Beklemmung, aber trotzdem fragte er. „Was hat es mit dem Spiegelbild in dem Rothebach auf sich?“ Die alte Dame lachte. „Das wollen Sie wissen? Deswegen sind Sie hier?“ Julius nickte erneut stumm und lauschte der Erklärung der Heidealten aufmerksam. Er merkte sich jedes ihrer Worte, während er in ihre hellen, strahlend blauen Augen blickte. Julius sah zur Sonne hinauf, die am azurblauen Himmel leuchtete und er spürte den Hauch des Wiesenwindes in seinem Gesicht und in den Haaren. Die Sonne wanderte heute anscheinend besonders schnell. Sein Zeitgefühl war von dem Liebeskummer getrübt. Er wollte heute noch alles erledigen, aber er wusste nicht, ob er es auch wirklich schaffen würde. Die Heidealte machte ihm Mut und sprach ihm gut zu, als sie ihm eine Hand auf die Schulter legte. Ihre Hand war warm. Das spürte er durch das Sweatshirt hindurch. Ein wenig fand er es gruselig, aber andererseits war Wärme positiv, denn Wärme, die vom Herzen ausging und über eine Hand ausstrahlte, konnte heilen, dachte er. In seiner rechten Hand hielt er sein Tagebuch, aufgeschlagen in der Mitte. Er las die Stelle mehrmals. Er konnte sie am Schluss auswendig. Julius lief den Weg entlang und zur kleinen Brücke, die über den Rothebach führte. Die dunkelstämmigen Eichen waren geschmückt mit vollem Blattwerk und die Kopfweiden schienen sich vor ihm zu verneigen, da er nun endlich den Entschluss gefasst hatte, sich Hilfe aus den Kräften der Natur zu holen. Er lief den kleinen Trampelpfad entlang, den anscheinend am Bach spielende Kinder nutzten, da die Grashalme niedergetreten waren und kleine Holzboote aus Rinde und einem Segel-Eichenblatt, aufgespießt auf einem winzigen Ästlein, verstreut herumlagen. Seine Gedanken wirbelten umher, so wie das fließende klare Wasser des Rothebachs. Er erinnerte sich an das, was die Heidealte ihm geraten hatte. Sobald das Wasser sich rot färbte, sollte er seine Hand, mit der er damals das Versprechen gegeben hatte, eintauchen und dann auf die guten Mächte des Rothebachs vertrauen. Nervös näherte er sich dem Bach. Das Wasser war sehr niedrig. An manchen Stellen sah er größere Steine im Rothebach liegen. Das Plätschern verstärkte seine Anspannung. Mit langsamen Schritten lief er ans matschige Ufer und ging in die Hocke und verlagerte sein Gewicht auf das rechte Knie. Er konzentrierte sich auf die Frage, die ihn umtrieb. Er beugte sich über die sich kräuselnde Wasseroberfläche und blinzelte. Er dachte an das Versprechen, das er Felicitas gegeben hatte. Intensiv spürte er ein leichtes Kribbeln in seinen Händen und wie die Heidealte es vorausgesagt hatte, konnte er tatsächlich sein Gesicht auf der unruhigen Wasseroberfläche erkennen. Es war durchdrungen von den schnellen Bewegungen des Wassers, aber klar und deutlich war es wie sein Spiegelbild, das er morgens im Badezimmerspiegel erblickte. Eine Welle der Erleichterung ging durch seinen Geist, aber gleichzeitig durchströmte ihn Hitze, da er nicht wusste, wie der Rothebach auf seine Frage, die ihn so stark bewegte, reagieren würde. Täuschte er sich oder sah er nun wirklich rötliche Wellen, die sich auf ihn zubewegten? Die Heidealte sprach von den Ockergründen, durch die sich der Rothebach entlangschlängelte, und daher solche Wellen auslösen konnte. Er hielt den Atem an, als eine rötliche Welle sein gespiegeltes Gesicht erreichte und ihn in Schamesröte zeigte. Jetzt musst er es tun. Das sagte jedenfalls die alte Dame. Er streckte seine rechte Hand, mit er damals das Versprechen gegeben hatte, zögernd aus und tauchte sie in sein vom Rothebach errötetes Spiegelbild. Eine heftige Gefühlswelle durchfuhr ihn. Es war, wie die Heidealte es vorausgesagt hatte. Eine Erkenntnis traf ihn. Hart. Sofort. Unwiederbringlich. Gestärkt von den Sonnenstrahlen, die Julius noch durch das dichte Blätterwerk der Bäume mitten im Juli erwischten, ging er mit federnden, leichten Schritten den Trampelpfad zurück, vorbei an den kleinen Spielzeugbooten. Er nahm eines und lief schnell zurück. Dann setzte er das Bootchen auf dem Wasser auf und sah, wie es unter der Brücke verschwand und immer weiter schwamm, seinem Ziel entgegen. Dieser Gedanke ermunterte ihn, mit voller Kraft und dem wieder erlangten Glauben an seine Ehre, sich dem Widerwillen seiner Mitmenschen zu stellen und ihnen zu zeigen, was es heißt, ein Versprechen ernst zu nehmen. Er lief den Weg durch den Wiesengrund zurück und kam an den immergrünen Wacholdersträuchern vorbei. Er pflückte ein paar Beeren und steckte sie in den Mund. Sie waren so sauer, dass er den Mund verzog und es ihn leicht schüttelte. Er spuckte sie aber nicht aus. So war das Leben, dachte er. Es schmeckte manchmal unverhofft ganz schön sauer, aber man konnte sich damit arrangieren, wenn man an seine Kraft glaubte. Es war schon dunkel, als Julius immer wieder auf den silbernen Klingelknopf drückte, bis schließlich die Tür aufging. Finn stand vor ihm und gähnte. Julius starrte in den offenen Mund, in dem die Zähne blank lagen. Die Zähne sind ein Symbol für Stärke, dachte er. Finn wollte damit Macht demonstrieren, anscheinend. Julius überwand sich die Frage zu stellen, die ihn schwer beschäftigte. „Liebst du Felicitas?“ Finn, der im weißen T-Shirt und hellgrauer, schlabbriger Jogginghose vor ihm stand, knickte leicht ein, so als hätte ihn ein Faustschlag mitten in den Bauch getroffen. „Julius, was ist das für eine Frage?“ Finn schaute auf seine Armbanduhr. „Schon mal auf die Uhr geschaut, Alter?“ Julius musste am Ball bleiben. Es ging um viel zu viel, um sich mit solchen Sprüchen abspeisen zu lassen. Er näherte sich Finn einen Schritt, indem er sich auf die erste der drei Treppenstufen vor dem Hauseingang stellte. „Ich gehe nicht ohne Antwort.“ Finn sah mit einem Schlag besorgt aus. „Dir ist es ernst, was?“ Julius nickte und erhielt dann seine Antwort. Die Sonne ging in dem strahlendsten Orange auf, das Julius kannte. Das Blau des Himmels war so intensiv wie noch nie, als er die Flugzeughalle betrat. Er eilte zu dem Hubschrauber und der Hubschrauberpilot öffnete ihm die Tür zum Beifahrersitz. Julius spürte sein Herz klopfen. In seinen verschwitzten Händen hielt er einen Blumenstrauß. Der Pilot sah ihn mit sorgenvoller Miene an. „Es ist schon ein wenig außergewöhnlich, finden Sie nicht auch?“ Julius lächelte unsicher. „Die Sache ist es wert. Sie werden sehen.“ Der Hubschrauberpilot warf einen Blick hinter die Sitze. Ein ganzes Meer an Rosen in Rot und Weiß. Julius wollte auffallen, um jeden Preis. Lange genug hatte er sich vor Felicitas‘ Vater versteckt. Ihr Vater war furchteinflößend, aber er war nur voller Misstrauen und in erster Linie besorgt um das Wohl seiner Tochter. Das war die Erkenntnis, die er hatte, als er seine rechte Hand in das rote Spiegelbild auf der Wasseroberfläche des Rothebachs getaucht hatte. Dieses plötzliche Einfühlungsvermögen hatte es ihm ermöglicht, kreativ mit dieser Situation umzugehen und er war höchst erstaunt, als sein bester Kumpel Finn ihm berichtete, dass er von den Heiratsplänen, die Felicitas‘ Vater mit ihm hatte, sehr genervt war. Felicitas war hübsch, keine Frage. Sie war auch begehrenswert. Das stand auf keinen Fall zur Debatte. Aber sie war auch die Freundin seines besten Kumpels. Julius war erleichtert, als er diese Worte seines Freunds Finn vernahm. Er umarmte ihn und drückte ihn an sich. Es war, als ob der leichte und unbeschwerte Wind, der im Wiesengrund des Rothebachs wehte, ihn innerlich erfüllte. Es war eine riesige Erleichterung, aus dem Mund seines Freundes zu hören, dass er doch niemals ihm Felicitas wegschnappen würde. Er wäre doch ein Ehrenmann. Und Julius schnaufte schwer bei diesen Worten seines Kumpels. Seine verloren geglaubte Ehre war anscheinend zurück, so wie die Heidealte es vorausgesagt hatte. Der Hubschrauberpilot schaltete den Motor des Hubschraubers ein und das laute Geräusch der Rotorenblätter vermischte sich mit den nervösen Gedanken von Julius, was wohl Felicitas dazu sagen würde. Der Hubschrauber schwebte ungewöhnlich sanft in der Luft und flog Richtung Sonne, direkt in Julius‘ Zukunft. Er hielt immer noch den Strauß mit sieben roten Rosen in seinen Händen, als der Pilot ihm ein Zeichen gab. „Herr Appelboom, wir sind gleich da. Da unten, sehen Sie?“ Julius sah das Haus, das wie Spielzeug auf ihn wirkte. Aufgeregt blickte er zu der Strickleiter, die hinter ihm lag. Gleich würde er auffallen, und zwar so richtig. Julius klammerte sich an der Strickleiter fest. Er blickte unruhig nach oben, aber der Hubschrauberpilot hob den Daumen. Dann dirigierte er den Hubschrauber immer näher an das Haus von Felicitas. Es dauerte keine Minute und Julius sah Felicitas wie einen Gummiball auf und ab hüpfen. Julius sah zum Piloten und gab ihm ein Zeichen. In diesem Moment drückte dieser einen Knopf und es regnete Rosen. Und die Rosen fielen auf eine fröhliche Felicitas hernieder. Sie drehte sich im Kreis, wie ein kleines Kind, dem schwindelig werden wollte. Der Pilot gab Julius ein Zeichen, dass er zum Landen ansetzen wollte. Der Erdboden näherte sich und ein flaues Gefühl ging durch Julius‘ Magen. Gleich konnte er den ersten Fuß auf die Wiese setzen. Er hatte es garantiert tausend Mal mit dem Piloten geübt, aber trotzdem klopfte ihm das Herz bis zum Hals. Sein rechter Fuß berührte zuerst die Wiese, dann sprang er beherzt von der Leiter ab und lief direkt auf Felicitas, die immerzu grinste, zu. Er kniete vor ihr nieder. „Meine Liebe des Lebens, willst du meine Frau werden?“ Felicitas schaute hoch zum Hubschrauber und wieder zurück zu Julius. Sie rang mit sich. Das konnte Julius spüren. Der Moment war so romantisch. Er war geradezu perfekt, da sah er Felicitas‘ Vater aus dem Haus stürmen. Ihr Vater sah erbost aus. „Was soll dieser Zauber? Haben Sie zu viel Geld?“ Julius drückte Felicitas verlegen den Strauß in die Hand. Sie schaute angespannt, als sie ein leises „Danke“ flüsterte. Ihr Vater baute sich vor Julius auf. Er kam Julius, wie eine Mauer vor, die es zu durchbrechen galt. „Herr Wiesenkemper, ich habe ein Versprechen heute eingelöst.“ Felicitas’ Vater deutete entsetzt auf den Helikopter. „Das ist das Versprechen?“ Julius sah zu Felicitas. „Ich habe ihrer Tochter einen außergewöhnlichen Heiratsantrag versprochen.“ Ihr Vater lachte. „Das ist wirklich originell. Aber wenn Sie mich fragen, übertrieben, viel zu viel.“ Julius merkte eine große Gegenwehr in sich, aber die Kraft, die ihm das Rothewasser gegeben hatte und die Erkenntnis, mit ihrem Vater mitzufühlen, veranlasste ihn dazu, auf ihren Vater zuzuschreiten. Julius breitete die Arme aus und lief weiter. Ihr Vater hob erst zögerlich die Arme und lief dann auf Julius zu. Julius legte beide Arme um ihren Vater. „Ich werde der beste Ehemann der Welt für sie sein.“ Ihrem Vater rannen Tränen die Wangen herunter. Felicitas holte ein Taschentuch heraus und gab es ihm. Peinlich berührt und leicht errötet tupfte er seine Gefühlstränen hinweg. Er antwortete Julius leicht stockend. „Ich bin froh, dass Sie mich verstehen. Ich dachte, dass sie Ihnen viel weniger wert ist.“ Julius schüttelte energisch seinen Kopf. Ihr Vater blickte entschuldigend. „Finn kam mir um so vieles besser vor.“ Julius schnaufte. „Ich habe mit ihm geredet. Felicitas‘ Vater nickte leicht seinen Kopf. „Ich weiß, er hatte angerufen.“ Doch Julius wollte nicht mehr länger reden, er eilte zu Felicitas. Er küsste sie leidenschaftlich und sagte zu ihr: „Das ist ein Versprechen, allerliebste Felicitas. Und ich werde es nie vergessen, dank dem treuen und ehrenvollen Wasser des Rothebachs.“

Wie ein Feuer in der Wüste

Hildegard hörte das Gemecker der Leiterin vom Wohntrakt drei über den ganzen Flur. „Frau Brinstrike, keiner stapelt seine Papiere im Wandschrank außer Ihnen. Wirklich keiner.“ Hildegard dachte wieder daran, wie schön der Tag sein würde, an dem sie endlich ihren Manfredo wiedersehen würde. Diese Wiederbegegnung würde einzigartig werden, ein Ausbund an Freude. Sie sah sich in einem regenbogenfarbenen Kleid und durchsichtigen Flügeln. Ihre Haut war schimmernd hell. In ihren katzengrünen Augen spiegelte sich das Bild von Manfredo in einem regenbogenfarbenen Anzug mit Krawatte. An seinem Rücken waren goldene Flügel, weil er ein besonders guter Mensch war. Hildegard stoppte vor ihrer Tür zum Zimmer 310. Die Leiterin, gekleidet in dunkelblauer Hose und pinkem Pulli, wippte aufgeregt mit dem rechten Fuß. „Frau Brinstrike, wie oft soll ich Ihnen das noch sagen? Keine Papiere im Wandschrank.“ Sie deutete zur Tür. „Es ist das reinste Chaos bei Ihnen.“ Hildegard rollte innerlich die Augen. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte um. „Ja, Frau Potthast. Ich kümmere mich darum.“ Sie huschte durch den Türspalt und zog extra laut die Tür hinter sich zu, so dass Frau Potthast zusammenzuckte. „Frau Brinstrike!“ schallte es im Flur. Aber zum Glück war die Tür zu und das Negative blieb draußen. Hildegard schlurfte in ihren grauen Filzpantoffeln zum Schrank. In ihrer rechten Hand hielt sie den Brief vom Finanzamt. Es wäre eine Unmöglichkeit, diesen Brief wegzuwerfen. Sie schob die Schranktür zur Seite und legte den aufgefalteten Brief oben auf den obersten Papierstapel, der gefährlich wackelte. Es war der Papierstapel mit dem Behördenkram. Ein Fach tiefer war der Stapel mit dem Familienkram. Er war halb so hoch. Ein Trauerspiel. Im untersten Fach war der Stapel mit den unangenehmen Angelegenheiten. Sie seufzte, aber immerhin war er der niedrigste Stapel von allen. Für ihn musste sie sich hinknien, auch in geistiger Hinsicht war es bei diesem Stapel ein sich Beugen vor dem Schicksal. Ein Klopfen an der Zimmertür ließ sie aufhorchen. „Ja?“, krächzte sie. Sie brauchte dringend einen Schluck Wasser. Schnell gleitete sie zu dem kleinen Tisch, der gegenüber von ihrem Bett stand. Es war mehr einem Krankenhausbett ähnlich war als einem Ort der Ruhe und Gelassenheit. Die Tür öffnete sich langsam, als sie hastig einen Schluck Wasser nahm. Sie hustete. Was für eine Überraschung. „Robin, schön, dass du vorbeischaust.“ Ihr Herz lachte. Robin flitzte zu ihr. Er war fast zwei Meter groß, hatte kurze brünette Haare und in seinem runden Gesicht lachten ihr zwei braune Augen entgegen. Er sah ihrem Manfredo so ähnlich, als er noch jung war. Aber die durchlöcherten Jeans und das T-Shirt mit einem unaussprechlichen Bandnamen waren ganz anders als Manfredos Kleidung. Robin umarmte Hildegard. „Oma, du brauchst Hilfe, meinte Frau Potthast. Was kann ich für dich tun?“ „Ach Robin, die verrückte Potthast will, dass ich meine Briefe wegwerfe. Aber du weißt ja, das geht nicht.“ Robin blickte zu seiner Oma, die ihre Stirn runzelte. Ihre grauen Locken umrahmten das jugendlich wirkende Gesicht. Sie trug einen grünen Rollkragenpulli und eine elegante schwarze Hose mit Bundfalten. Eine echte Perlenkette peppte ihr Outfit auf. Es klopfte erneut an der Zimmertür und Sebastian, der Pfleger, der oft gern einen Spaß machte, streckte seinen Kopf durch den Türspalt. „Frau Brinstrike, alles gut bei Ihnen?“ „Aber klaro, Sebastian. Ich bin fit wie ein Turnschuh.“ Sebastian hielt einen Daumen hoch. „Vergessen Sie nicht ihre Stäpelchen.“ „Wir sind schon dabei. Aber was ich Sie noch fragen wollte, haben Sie schon wieder diese Live-Reportage von diesem Rennen geschaut. Wie hieß es gleich noch mal…?“ „Rallye Dakar, Frau Brinstrike. Rallye Dakar.“ „Wussten Sie eigentlich, dass ich früher Rennen gefahren bin?“ Sebastian schwang die Tür auf. „Was? Sie wollen mir sagen, dass sie stolze Besitzerin einer Rennfahrer-Lizenz sind?“ Robin klopfte seiner Oma auf die Schulter. „Sie sprechen mit der flottesten Oma im Heim. Es ist Tatsache.“ „Ich glaube, mein Hamster jodelt.“ Hildegard grinste. „Dass ich Sie mal zum Staunen bringe, hätte ich nie gedacht.“ Sebastian blickte ungläubig. „Ich gehe jetzt zurück ins Fernsehzimmer und male mir aus, Sie wären dabei.“ Hildegard protestierte. „Ich bin nicht mehr fit genug. Sehen Sie, wie wenig Muskeln ich habe?“ Sebastian konterte. „Das lässt sich ändern, Frau Brinstrike. Nichts ist in Stein gemeißelt.“ „Aber stellen Sie sich doch mal vor, ich im Fitness-Studio. Wäre das nicht ein komisches Bild?“ „Hat nicht ihr Mann immer gesagt, je oller, desto doller?“ Hildegard lachte. „Ja, und er meinte auch, dass ich die weltbeste Rennfahrerin gewesen bin.“ Hildegards Herz begann zu schwingen. Ein Glücksgefühl durchströmte ihren zierlichen Körper. Manfredo war stets des Lobes voll, auch wenn sie nur den dritten Platz auf dem Nürburgring errungen hatte. Seine Worte waren Balsam für ihre Seele. „Wissen Sie was, Sebastian. Melden Sie mich für nächsten Montag beim Fitness-Studio an.“ Innerlich eröffnete Hildegard einen neuen Papierstapel in ihrem Wandschrank, den für Projekte. Alle würden über einen weiteren Stapel schimpfen. Aber ein Stück weit war es ihr egal. Sie würde ihr Ding durchziehen. Also stemmte sie selbstbewusst die Arme in die Hüften und blickte stolz zu Sebastian. „Ich werde ab heute für meinen Manfredo etwas Schwung in mein Leben bringen.“ Robin beobachtete den sicheren Blick seiner Oma. Er wusste, wenn sie ein Ziel hatte, würde sie alle Hebel in Bewegung setzen, um es zu erreichen. Hildegard blinzelte Robin zu. „Robin, du bist ab heute mein Coach. Was hälst du davon?“ „Ich weiß nicht. Sollten wir nicht erst mal diese Stapel durchforsten und sehen, was weggeworfen werden kann?“ Hildegard stöhnte. „Robin, du bist jetzt 25. Du solltest dich im Kontrageben mehr üben.“ Sebastian zeigte auf die Papierstapel. „Ihr Enkel hat Recht. Aber ich habe einen Vorschlag. Sie machen sich an die Arbeit und als Belohnung melde ich Sie beim Fitness-Studio an.“ Hildegard lief energiegeladen zu Sebastian und hielt ihre rechte Hand zum Einschlagen hin. Sebastian schlug ein. „Abgemacht, Frau Brinstrike.“ Diese Nacht schlief Hildegard ruhig in ihrem monströsen Bett. Sie träumte von Manfredo, der ihr gratulierte, dass Sie ins Fitness-Studio gehen wollte. Doch Frau Potthast tauchte mitten in dem Gespräch auf und drohte Hildegard, nicht nur die Papierstapel zu kontrollieren, sondern auch was sie träumen würde. Ihr würde nichts entgehen und das sollte sie mal glauben. Alte Leute brauchen Ruhe und keine Abwechslung. Hildegard wachte erschrocken auf. Der Traum war so echt. Ihr Herz klopfte. Ihr war klar, dass ihr Unterbewusstsein ihr sagen wollte, dass Frau Potthast nichts davon erfahren sollte. Sie schwitzte bei diesem Gedanken. Morgen würde sie mit Sebastian reden. Dieser Gedanke half und sie nickte wieder ein und träumte von der Wüste und ulkigen Wüstentieren. Am nächsten Morgen schaltete Hildegard ihr Smartphone, das ein Weihnachtsgeschenk von Robin war, ein. Sie fand heraus, dass die Rallye Dakar in Saudi-Arabien stattfand, also wirklich in der Wüste, so wie im Traum. Insgesamt 7900 Kilometer müsste sie fahren. Sie bräuchte ein spezielles Auto und einen Beifahrer, der sich nebenbei mit Autos auskennt. 14 Tage dauert die Rallye Dakar. Und es gibt immer wieder Tote bei diesem Rennen. Sie schluckte und auf einmal war ihr ganz schwindelig vor ihrem eigenen Mut. Sie stand entschlossen von ihrem Stuhl auf und suchte im Flur nach Sebastian. Er saß schon wieder vor dem Fernseher und schaute Rallye Dakar. Sie tippte ihm an die Schulter. „Oh, Frau Brinstrike, schon so früh wach?“ „Wir müssen reden.“ „Oh, so ernst. Was gibt’s?“ „Ich brauche ihr Wort. Bitte schalten Sie um auf Schweigefuchs bei Frau Potthast, wenn ich zum Fitness-Studio gehe. Keine Anspielung auf die Rallye Dakar. Nichts, wirklich nichts.“ Sebastian blickte in das ernst wirkende Gesicht von Hildegard. „Okay, aber das mit der Rallye ist doch eh ein Scherz, oder?“ Hildegard verstand seinen Wink. „Ja, da haben Sie vollkommen Recht. Ich will nur fit sein. Deswegen fahren Sie mich am Montag zum Fitness-Studio.“ „Aber klaro, Brinstriken-Mädchen. Wir schaukeln das.“ Pünktlich um neun Uhr am Montag holte Sebastian Hildegard ab. Sie hatte ihre Sportklamotten in einer weißen Baumwoll-Einkaufstasche mit der Aufschrift „Einmal hin, alles drin“ gepackt. Hildegard schnaufte und ächzte, stöhnte und fluchte. Die Hanteln waren schwerer als sie sie in Erinnerung hatte. Die Geräte brachten sie an den Rand ihrer Kräfte. Aber sie hielt durch und Übung für Übung wurde sie stärker und stärker. Sebastian holte Hildegard, die mit rotem, verschwitzten Gesicht vor dem Fitness-Studio auf ihn wartete, erstaunt ab. „Frau Brinstrike, übernehmen Sie sich da nicht?“ „Nur die Harten kommen in den Garten, was?“ Sebastian lachte und brachte sie zurück ins Seniorenheim. Insgeheim bewunderte er sie. Nach drei Monaten federte ihr Gang wieder. Die schlurfenden Schritte wurden von energischen Schritten abgelöst. Ihre straffere Körperhaltung wirkte sogar auf Frau Potthast. Aber es war ein misstrauischer Blick bei Frau Potthast. Hildegard merkte diese Feinheit. Hildegard saß eines Tages beim Kaffeetrinken im Speisesaal. Sie hob die Kaffeetasse mit Leichtigkeit an. Heute würde sie es tun. Sie würde sich bei der Rallye Dakar bewerben. Heute würde sie Robin überzeugen, dass er der Beifahrer wäre. Sie fühlte sich unsicher trotz der neuen körperlichen Fitness. Robin sollte eigentlich schon längst da sein. Wo blieb er nur? In diesem Moment sah sie Robin den Flur vor dem Speisesaal entlangstapfen. Ein sportlicher Kerl. Er hatte sie nun drei Monate nicht gesehen. Würde er den Unterschied merken? Hatte sie eine Chance? Robin nahm sie in den Arm und setzte sich zu ihr an den Tisch. Er zuckte leicht zusammen. „Hi, Oma. Du hast ganz schön kräftig umarmt.“ Er beäugte sie mit schief gelegtem Kopf. Hildegard trug ein T-Shirt. „Und deine Armmuskeln sind unglaublich.“ Er fasste an einen Oberarm. Hildegard grinste stolz. „Hartes Training, mein Junge. Solltest du auch mal probieren.“ Robin blickte erstaunt. „Ich? Nein, ich bin eher der Radfahrertyp.“ Er zeigte Richtung Ausgang. „Oma, du weißt doch, dass ich gerne Mountainbike fahre.“ Hildegard nickte. „Und an Autos schraubst.“ „Oma, das ist mein Job. Wie meinst du das?“ Hildegard zwinkerte. Robin verstand und folgte ihr, als sie abrupt aufstand und Richtung Ausgang lief. Sie liefen schweigend in den Park. Erst als Hildegard auf einer einsam gelegenen Parkbank Platz nahm, redete sie wieder. „Robin, ich habe ein Projekt.“ Robin hielt inne. „Hört sich interessant an.“ „Und du kommst auch drin vor.“ „Was?“ „Pst, nicht so laut. Robin, ich möchte bei der Rallye Dakar mitmachen und ich brauche einen Beifahrer, der sich mit Autos auskennt.“ „Aber Oma.“ „Ich habe bereits meinen Kumpel Heinrich aus alten Zeiten angerufen und er meint, dass er mir ein passendes Auto organisieren und nach Saudi-Arabien bringen kann.“ Robin stand überrascht auf. „Ich verspreche dir, es wird das Abenteuer deines Lebens.“ „Genau, ein Abenteuer, aber ein Gefährliches. Wenn das Papa rauskriegt, dass wir zusammen so ein Ding drehen wollen.“ „Wir informieren ihn, wenn wir zurück sind.“ „Aber dein Seniorenheim. Ich meine, was sagen die denn dazu? Du kannst doch nicht einfach die Rallye Dakar fahren.“ „Robin, ich habe einen gut durchdachten Plan.“ „Und was ist, wenn dir was passiert? Das ist mitten in der Wüste.“ „Ich war gestern bei meinem Hausarzt und er bestätigte, dass ich fit bin.“ „Fit für Unfug?“ „Nein, fit für einen Lebenstraum. Worauf soll ich warten, Robin?“ „Ich habe Verantwortung, wenn ich dich begleite, Oma.“ „Und du hast die einmalige Chance mit mir ein unvergessliches Erlebnis zu haben.“ Hildegard beobachtete Robin haargenau. Er grübelte. Das erkannte sie daran, dass er seine Finger knetete. „Oma, lass mich darüber nachdenken.“ „Du hast eine Woche Zeit.“ Hildegard telefonierte häufig mit Heinrich. In ihrer Magengrube kribbelte die Vorfreude. Robin hatte zugesagt. Und dann war es soweit. Hildegard verließ das Seniorenheim mit ihrem großen grauen Koffer aus Kunstleder. Frau Potthast hatte sie erzählt, dass sie Urlaub machen würde, zusammen mit ihrem Enkel Robin. Sie dachte an die Flugtickets in ihrer schwarzen Handtasche. Es ging nach Dschidda. Gut, dass Manfredo ihr ein Aktiendepot hinterlassen hatte. Robin holte sie am Seniorenheim ab und mit einem Mietwagen fuhren sie zum Flughafen Frankfurt. Sie war aufgeregt, aber positiv. Als das Flugzeug zur Landung ansetzte, drückte ihr Robin die Hand. „Danke, Oma. Ich glaube, das kann man nicht oft genug sagen.“ Hildegard lächelte. Mit einem Taxi fuhren sie zum Lager der ersten von zwölf Stationen der Rallye Dakar. Der Taxifahrer fragte sie, ob sie Touristen seien. Und als Hildegard ihm auf Englisch mitteilte, dass sie und Robin mitfahren würde, war er auf einmal still. Nach einer kurzen Überlegung meinte er, dass Dschidda auch Großmutter bedeuten kann. Er fügte hinzu, dass es ein gefährliches Abenteuer sei. Sie nickte. Robin schwieg. Als sie und Robin im ersten Zeltlager der Rallye Dakar eintrafen, meldeten sie sich bei der Rezeption an. Er stellte sich mit dem Namen Ismi Abdallah ibn Umar ibn Muhammed ibn Abdallah al-Halabi vor. Wegen ihrer erstaunten Gesichter schlug er vor, ihn Ismi zu nennen. Er gab ihnen ein Buch mit Instruktionen. Ihr Auto würde bereitstehen. Sie müssten nach links und wieder rechts gehen, dann würde ein Mister Heinrich Müller sie erwarten. Heinrich jubelte, als er Hildegard sah. Er umarmte sie und Robin. Stolz zeigte er auf den weißen Geländewagen. „Euer Gefährte für die nächsten 14 Tage.“ Hildegard und Robin nahmen Platz. Robin prüfte das Cockpit. „Oma, das wird eine ganz große Sache. Echt.“ Am Abend bauten sie ihre Zelte auf und übernachteten in dunkelgrünen Schlafsäcken auf blauen Isomatten. Hildegard träumte diese Nacht von einem Auto, das in das Ziel der Rallye Dakar flog. Sie kroch am nächsten Morgen um fünf Uhr aus ihrem Zelt und weckte Robin und Heinrich. Sie gähnten beide herzhaft und Hildegard trommelte sich wie Tarzan auf die Brust. „Nichts kann uns aufhalten.“ Ismi drückte ihr das Roadbook in die Hand und erklärte ihr, wie sie es auf der ersten Strecke lesen sollten. Robin nickte, innerlich war er angespannt. Der Start rückte näher. Hildegard fuhr den Geländewagen mit ihrem Namen und Robins Namen sowie der Startnummer auf der Fahrertür an die Startposition. Sie zitterte leicht. Aufregung pur. Sie drückte aufs Gaspedal und Robin gab ihr Anweisungen. Er warnte sie vor Gestein, vor Schlamm und sandigen Untergrund. Wenn sie über Gestein fuhr, setzte der Geländewagen hart wieder auf. Ein Stoß rüttelte sie in ihren Sitzen hin und her. An anderen Stellen wirbelte der Geländewagen Sand auf und vernebelte kurz die Sicht. Das ständige Hüpfen des Autos verursachte bei Hildegard ein flaues Gefühl in der Magengegend. Aber nach fünf Stunden, 33 Minuten und 17 Sekunden erreichten sie al-Wadschh. Sie waren die Küste entlang gefahren und nun sahen sie einen Tisch mit einem roten Schirm überdacht, den Kontrollpunkt. Die erste Strecke war geschafft. Sie erfuhren, dass der Erste knapp drei Stunden gebraucht hatte. Hildegard stieg aus und streckte sich. Sie hatte tierischen Muskelkater. Robin schlug vor, dass sie in den Mediencenter gingen und schaltete den Laptop ein. Er schickte seinem Vater eine E-Mail, dass alles okay sei und der Urlaub in Saudi-Arabien sensationell. Anschließend aßen sie ein Menü mit Hühnchen, Reis und Gemüse und tankten den Geländewagen für die zweite Strecke auf. Am zweiten Tag fuhren sie von al-Wadschh erst die Küste entlang und dann ins Landesinnere. 397 Kilometer waren zu bewältigen. Helikopter flogen über ihnen. Kamelherden kreuzten ihren Weg. Es war eine flache Sandstrecke, an deren Rand einzelne grüne Büschen standen. Sie hatten von Reifenschäden gehört, aber zum Glück hatte Heinrich den Reifendruck optimal eingestellt. Außerdem konnte Hildegard je nach Untergrund den Reifendruck von ihrem Cockpit aus regulieren. Der aufwirbelnde Staub machte Hildegard ein schnelles Fahren fast unmöglich. Nach gut sechs Stunden erreichten sie die Hafenstadt Neom. Der Schnellste war die Strecke in nur dreieinhalb Stunden gefahren. Hildegard und Robin fuhren am dritten Tag eine Schleife von Neom nach Neom. An der sandigen Strecke waren Gebirge, die wie aufgestapelte Steine aussahen. Sie hörten, dass ein Biker-Teilnehmer mit Knochenbrüchen ins Krankenhaus geflogen wurde und dass ein Auto in Flammen aufging. Hildegard war stolz, dass sie bereits zwei Stunden nach dem ersten ins Ziel fuhr. Am Abend kontrollierten Robin und Heinrich das Auto. Sie wechselten die Stoßdämpfer aus. Eine Physiotherapeutin behandelte Hildegard. Es tat ihr ausgesprochen gut. Sie atmete tief durch und freute sich auf den nächsten Tag. Die vierte Strecke ging von Neom nach al-Ula. 672 Kilometer mitten durch Schluchten, über graustaubige Straßen, an deren Rand niedrige Laubbäume und knorrige Zäune standen. Sie brauchten sieben Stunden. Der erste hatte nur vier Stunden gebraucht. Robin sagte Hildegard, dass es vor allem aufs Durchhalten ankomme. Hildegard wollte aber schneller werden. Sie wollte es den anderen zeigen. Die fünfte Strecke führte sie von al-Ula nach Ha’il. Und trotz aller Vorkehrungen hatten sie einen Reifenschaden. Heinrich half ihnen so schnell es ging, aber sie verloren zwei Stunden dadurch. Frustriert fuhren sie nach acht Stunden zum Kontrollpunkt von Ha’il. Hildegard bemerkte die Schönheit der einzigartigen Landschaft. Ein Berg, der wie ein Elefant aussah. Es war einmalig. Eine käsegelbe Sonne stand am rostroten Himmel mit Wolkenschwaden. Später krabbelte sie müde in ihren Schlafsack. Auf der sechsten Strecke ging es von Ha’il nach Riad. Ganze 830 Kilometer waren zu bewältigen. Hildegard fühlte sich schlapp. Sie hatte schlecht geschlafen. Und so rutschte der Geländewagen über eine Sandkuppe und kippte links weg. In letzter Sekunde konnte sie ihn abfangen. Robin atmete schwer. Sie hatten verdammtes Glück gehabt. Im Zeltlager von Riad prüfte Heinrich zusammen mit Robin Öl, lockere Schrauben und die Reifen. Es war alles okay. Und alle drei waren erleichtert, weil einen Tag Pause war. Am übernächsten Tag ging es nach Wadi ad-Dawasir. Ein tragischer Tag, denn einer der Biker stürzte so schwer, dass er starb. Hildegard und Robin erfuhren es erst am Kontrollpunkt von Wadi ad-Dawasir. Robin fragte Hildegard, ob sie um jeden Preis diese Rallye durchziehen würde. Sie grübelte und nach einer langen Pause sagte sie ihm, dass es in diesem Sport immer wieder Unfälle gäbe. Robin wollte wissen, was wäre, wenn es sie treffen würde. Sie wollte darüber nicht reden. Am nächsten Tag fuhr Hildegard die achte Strecke. Robin las mechanisch die Warnhinweise aus dem Roadbook vor. Ansonsten wechselten sie kein Wort. War dies alles richtig? Das ging ihnen durch den Kopf. Die neunte Strecke nach Haradh war anstrengender als gedacht. Es gab scharfe Rechtskurven, die an überraschenden Stellen auftauchten. Hildegard fuhr die Strecke in erstaunlichen vier Stunden, mit nur einer Stunde Abstand zum ersten. Robin bemerkte die Verbesserung und lobte sie. Aber ihr schmeckte der Erfolg nicht so richtig, da sie an den toten Biker denken musste. Als sie die zehnte Strecke nach Shubaytah fuhren, überschlug sich direkt vor ihnen ein Auto, das wieder auf den Rädern landete. Ein Sandsturm erschwerte die Fahrt, aber Hildegard war nur eine halbe Stunde hinter dem ersten. Im Zeltlager, das sich in der Nähe von einem Flughafen befand, marschierten sie in eine große weiße Blechhalle, in der ihnen das Abendessen serviert wurde. Diese Nacht übernachteten sie in einem der 3-Etagen-Betten. Heinrich erzählte Hildegard, dass Saudi-Arabien ein Land ohne Flüsse und Seen sei. Hildegard träumte diese Nacht von einem ausgetrockneten Fluss. Sie war wie gerädert, als sie am nächsten Tag ins Auto stieg. Robin fragte sie, ob es ihr gut gehe. Sie meinte, so la-la. Sie dachte an die elfte Strecke zurück nach Haradh. Sie fuhr draufgängerisch. Robin ermahnte sie, doch weniger Gas zu geben. So fuhr sie eine Dünenkuppe nach oben und rasant steil nach unten. Sie musste anhalten. Robin übergab sich. Nach zehn Minuten hatte sich Robin beruhigt. Aber sie konnte nicht anders. Sie gab mehr Gas als sonst. Sie war wie im Rausch. Nur zwanzig Minuten nach dem ersten, also nach gut viereinhalb Stunden waren sie am Kontrollpunkt. Der Kontrolleur lobte Hildegard. Und am Abend wurde sie von einem Reporter interviewt. Sie wäre die interessanteste Fahrerin der Rallye Dakar. Sie fühlte sich geschmeichelt. Robin wirkte nachdenklich. Die letzte Strecke führte sie nach Qiddiya. Es war eine kurze Strecke mit nur 447 Kilometern. Der Wagen vor ihnen hatte anscheinend Probleme. Er bremste immer wieder aus. Und plötzlich blieb er stehen. Zwei ratlose Franzosen stiegen aus und berieten sich. Robin meinte, dass sie helfen sollten. Hildegard hatte ihren Fuß auf dem Gaspedal. Da fiel ihr ein Spruch von ihrem Manfredo ein. In erster Linie ist man Mensch und dann Rennfahrer. Und so kam ihr ein Gedanke, der sie eisern festhielt. Man will als Helfer bewundert werden, eher als als Gewinner. Und so stoppte Hildegard und sie kletterten aus ihrem Geländewagen und halfen. Sie schlossen Freundschaft und endlich erkannte Hildegard, was wichtiger ist als Erster zu sein. Zusammen mit ihren neuen Freunden erreichten sie als Letzte die Ziellinie. Sie feierten bis spät in die Nacht. Hildegard und Robin beobachteten den Sonnenuntergang. Sie hakte sich bei ihm unter. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich habe das nicht für mich gemacht, Robin.“ „Ich weiß.“, sagte Robin und nahm sie sanft in den Arm. Und sie fühlte sich wie ein Feuer in der Wüste.